Bittprozessionen in Hilgerath

Reminiszenzen um verkümmerte christliche Tradition

Theo Pauly, Gerolstein

 

Zwar ist die Pfarrei Beinhausen mit ihrer Pfarrkirche Hilgerath eine eigenständige Pfarrei, jedoch wird sie schon seit vielen Jahren mitverwaltet vom Pfarrer der Pfarrei Kelberg. Mit dem Abzug des Geistlichen aus der Pfarrei sind auch eine Reihe von alten christlichen Traditionen verkümmert oder gar ganz zum Erliegen gekommen.

So war beispielsweise früher die Pfarrei Hilgerath eine der wenigen, in der alljährlich zwei Fronleichnamsprozessionen stattfanden. Die eine wurde wie überall am Fronleichnamstag durchgeführt, die zweite, einem alten Gelöbnis wohl aus der Pestzeit entsprechend, am Sonntag nach Fronleichnam. An dieser zweiten Fronleichnamsprozession nahmen gern und in einer Vielzahl Leute aus Nachbarorten und -pfarreien teil; vor allem aber fanden sich an diesem Sonntag alle »Ströder« zur Prozession in Hilgerath ein, die aus familiären oder beruflichen Gründen ihre Heimatpfarrei verlassen hatten und oft weitab in der Fremde wohnten. So war diese zweite, sonntägliche Fronleichnamsprozession meist wesentlich größer als die eigentliche am Fronleichnamstag. Heute wird nur mehr diese sonntägliche Prozession in Hilgerath durchgeführt.

Neben diesen beiden Fronleichnamsprozessionen gab es früher auch noch die Bittprozessionen. Heute findet auch in den Pfarreien mit eigenem Pastor meist nur noch eine einzige statt, früher waren es deren drei, die am Montag, Dienstag und Mittwoch vor Christi Himmelfahrt abgehalten wurden. In diesen Bittprozessionen wurde vor allem um Segen für die Feldfrüchte und eine gute Ernte gebetet. In der Pfarrei Hilgerath ging die erste Bittprozession am Montag von Hilgerath nach Gefell; dies war immerhin eine Wegstrecke von gut sieben Kilometern. Die Gläubigen aus Beinhausen, Boxberg, Neichen, Kradenbach, Nerdlen und Sarmersbach trafen sich früh um sechs Uhr an der Pfarrkirche in Hilgerath und formierten sich zur Prozession. Auch die Gefeller, die an dieser Bittprozession teilnehmen wollten, fanden sich schon so früh in Hilgerath ein. Sie hatten dann bereits einen Fußweg von mehr als einer Stunde hinter sich, machten allerdings verständlicherweise den Rückweg der Prozession von Gefell nach Hilgerath nicht mehr mit. Der Prozession vorangetragen wurden von Heranwachsenden das Betkreuz und zwei Fahnen. Kinder konnten an der Prozession nicht teilnehmen, denn sie mußten ja in die Schule. Aber es waren jeweils viele junge Leute und Erwachsene, die die Prozession bildeten.

Man kann sich vorstellen, daß manches Rosenkranzgesetz gebetet wurde auf dem langen Weg nach Gefell, wobei jeweils die Männerseite vorbetete und die Frauenseite »abholte«. Auch manches Lied aus dem Gesangbuch wurde über die Wiesen und Felder hinweg und in den Wald hinein gesungen, begleitet vom Gezwitscher der Vögel in den Hecken und Bäumen und dem Jubilieren der Lerchen, die sich von den Feldern in den Morgenhimmel emporschraubten.

Gegen acht Uhr traf man vor der Kapelle in Gefell ein, und das kleine Kirchlein konnte meist die große Zahl der Prozessionsteilnehmer gar nicht aufnehmen; dazu kamen die Einwohner von Gefell, die zwar nicht an der Bittprozession teilgenommen hatten, wohl aber die Messe in der der hl. Apollonia geweihten Kapelle mitfeiern wollten. Wir jungen Leute waren froh, und den älteren wird es ähnlich ergangen sein, daß die Messe nicht so lange dauerte, denn der Pastor war ja auch den langen Weg mitgegangen und freute sich wie wir auf ein anständiges Frühstück; außerdem schmerzten häufig die Füße, und wenn man dann in der Kapelle auch noch keinen Sitzplatz hatte, war das besonders unangenehm. Für uns Jungen war es allerdings selbstverständlich, daß die Plätze in den Bänken für die »Alten« reserviert waren, und so standen wir eben ohne Murren während der Dauer des Gottesdienstes. Deswegen waren jedoch die Gebete nicht weniger inbrünstig und der Gesang nicht weniger laut.

Walter Manderscheid, Bergstraße 8, Daun (Zeichenwettbewerb über 18 Jahre) Motiv: »Hilgerath"

Nach dem »Ite missa est« — damals wurde ja die Messe noch im lateinischen Ritus gefeiertleerte sich das kleine Kirchlein auffallend schnell. Draußen stopften sich die Männer ihre Pfeifen — der ein und andere hatte zur Feier des Tages auch eine oder zwei Zigarren oder Stumpen eingesteckt und zündete sich eine davon an - und die Frauen bildeten kleine und größere Grüppchen, begrüßten sich und erzählten sich Neuigkeiten, denn bisher waren sie ja noch nicht dazu gekommen.

Bald aber verlief sich alles und verschwand einzeln oder zu mehreren in den Häusern des Dorfes. Jeder Prozessionsteilnehmer hatte »sein« Haus in Gefell, in dem er traditionsgemäß zum Kaffee eingeladen war. Vielfach hatten die Leute nahe oder auch ganz entfernte Verwandte, bei denen sie Einkehr hielten. Aber auch der, der keine Verwandschaft in Gefell aufzuweisen hatte, hatte an diesem Tag »sein« Haus, wo ihm ein besonderes Frühstück serviert wurde. Diese »Häuser« wurden von Generation zu Generation weitervererbt.

Die Gefeller Hausfrauen setzten ihren ganzen Stolz in die Zubereitung des Frühstücks, das sie ihren Gästen anboten. Da standen die verschiedenen »Flödden« auf dem Tisch, die tagszuvor gebacken worden waren, Streusel und Bunnes, Äppelschmier und Bund und andere Sorten; da war vorher noch frische Butter gemacht worden, die jetzt auf dem Tisch stand, da waren noch geräucherte Blut- und Leberwurst vom letzten Schlachten, Schinken, selbstgekochtes Gelee und frischgebackenes Brot, und durch das ganze Haus zog ein Duft von Bohnenkaffee. Alles in allem war das so etwas wie eine kleine Kirmes, und man hätte versucht sein können, den einen oder anderen Prozessionsteilnehmer zu verdächtigen, die Prozession nur wegen dieses Frühstücks mitgemacht zu haben.

Das Frühstück nahm nicht weniger Zeit in Anspruch als der Weg von Hilgerath nach Gefell, und des Erzählens war kein Ende. Dann wurde, zumindest von den Männern, noch der Stall des Gastgebers besichtigte und begutachtet, und nicht selten wurde auch noch ein kleiner Handel abgeschlossen, so daß man am Tag darauf den Weg nach Gefell noch einmal machen mußte, um ein Gespann junger Ochsen abzuholen oder mit dem Fuhrwerk ein paar Ferkel.

Gegen zehn Uhr versammelte man sich wieder vor der Kapelle, und die Prozession begann ihren Rückweg unter Gebet und Gesang nach Hilgerath. Hier löste sie sich dann nach dem Gebet der Allerheiligenlitanei auf. Zu Hause wartete bereits das Mittagsessen.

Am Dienstag ging die Prozession in gleicher Weise von Hilgerath nach Nerdlen. Der Ablauf mit Gebet, Gesang, Messe, Frühstück und Viehhandel usw. war der gleiche. Allerdings gab es bei dieser zweiten Bittprozession eine kleine Änderung. Während der Hinweg von Hilgerath nach Nerdlen ebenfalls nur durch Flur und Wald erfolgte, ging der Rückweg »der Straße nach« über Sarmersbach nach Hilgerath, denn eine Reihe von Prozessionsteilnehmern »frühstückte« nicht in Nerdlen, sondern in Sarmersbach, weil dort die Verwandten wohnten. Diese Prozessionsteilnehmer wurden dann auf dem Rückweg in Sarmersbach aufgelesen.

Die dritte Bittprozession am Mittwoch war die kürzeste und am wenigsten ereignisreich; sie führte von Hilgerath hinunter nach Neichen, an der Lieser entlang auf der Landstraße nach Beinhausen und wieder hinauf nach Hilgerath, wo die Bittmesse stattfand. Hier gab es keine Gelegenheit zum Frühstück, hier begab sich ein jeder nach der Messe wieder nach Hause. An dieser Bittprozession konnten auch die Kinder teilnehmen, denn sie war rechtzeitig vor Schulbeginn beendet, zumindest für die Schulkinder aus Beinhausen, Neichen und Kraden-bach, die die Schule in Neichen besuchten. Wenn sich die Schulkinder an diesem Tag verspäteten, hatte der Lehrer nichts dagegen einzuwenden, denn auch er nahm an dieser dritten Bittprozession regelmäßig teil.