Die Katze, die bis drei zählte

Eine wahre Geschichte wie aus dem Reich der Fabel erlebt

Lotte Schabacker, Daun

 

Die hier aufgezeichnete Geschichte stammt aus dem Erinnerungsschatz einer alten Veterinärfamilie, die schon seit Generationen zum eigenen Spaß und zum Nutzen der meist vierbeinigen Patienten Tierverhaltensforschung treibt. Es war zu Opas Zeiten, als der heute kurz vor der Pensionierung stehende Senior der Familie noch ein Bub war und ebenso Augenzeuge wie seine Base, die diese ungewöhnlichen Vorgänge bestätigt:

Das ländliche Großvaterhaus inmitten eines weitläufigen Grundstückes war fest in tierischer Hand; hier tummelten sich gesundgepflegtes Wald-, Wiesen- und Luftviehzeug, ausgesetzte Katzen und verstoßene Hunde. Man hatte sich friedlich miteinander arrangiert, und was sich von Natur aus nicht recht trauen konnte, lief, kroch oder flog sich einfach aus dem Weg. Abgesehen von ein paar kleinen Pannen also ein Miniparadies vor dem Sündenfall; selbst die Blindschleiche, die ab und an zu Besuch kam, hatte nichts mit Erkenntnis-Äpfeln im Sinn. Und die Menschen, die hier hausten, nahm man je nach Naturell als Rudelführer, als Bedienung oder als notwendiges Übel hin.

Nur zwei Katzendamen tanzten aus der Reihe. Nicht, daß sie den allgemeinen Burgfrieden gestört hätten, sie fraßen, so schien es, nur Vögel von auswärts. Aber wenn Lore aus dem Keller und Liese, die den Speicher bewohnte, sich im Haus oder Gelände trafen, schlichen sie sich nicht aus dem Weg, sondern fauchten sich furchterregend an. Bei Menschendamen hätte man ohne weiteres geschlußfolgert, schuld an dieser kochenden Wut sei der »Herr von nebenan«, der die beiden, wenn seine Zeit kam, gleichermaßen fleißig bediente — aber wer weiß schon, wie Katzen über diesen Punkt denken.

Und dann geschah folgendes: Fast auf den Tag genau kamen die beiden Kätzinnen nieder, die Speicher-Liese mit sechs und die Keller-Lore mit drei Kindern. Eine wahre Katzenpracht also — aber auch im Tierreich ist auf das Glück nicht immer zu bauen. Nach zwei oder drei Tagen verlor Lore alle drei Babys. Verschiedene Umstände wiesen darauf hin, daß die Mörderin — eine kurze Abwesenheit der Katzenmutter nutzend — eine riesige und nicht zur Hausgemeinschaft gehörige Ratte war, die, ehe man ihr den Garaus machen konnte, auch noch manch anderen Kummer verursachte.

Lore hockte nun traurig vor dem Wochenbettchen, aus dem man die kleinen Leichen gerade entfernt hatte, und die Menschen standen bekümmert und ratlos drumherum. Zwar hätten sich die Muttis von einigen der Jungen ohnehin trennen müssen, aber doch nicht so schlagartig.

Plötzlich setzte sich Lore in Marsch, nicht hastig, aber zielstrebig. Die Menschen hinterher. Der Weg führte ohne Umschweife zum Speicher. Um Himmels willen, was hatte die Unglückliche vor? Da schien sich ein Drama anzubahnen.

Aber es gab kein Drama, jedenfalls keine Tragödie. Liese, neben ihrem sechsfach wuselnden Nest sitzend, sah den Eindringlingen ruhig entgegen. Niemand fauchte! Und Lore ließ sich in einiger Entfernung vor der glücklichen Rivalin nieder. Stille! Die beiden Tiere sahen sich an. Vielleicht eine Minute, meint heute der eine Zeuge, der andere ist für etwa zehn Sekunden. Jedoch darin ist man sich völlig einig: Die beiden Mütter müssen ein Gespräch miteinander gehabt haben, von dem Menschen nichts wahrnehmen konnten, denn wie auf Verabredung erhoben sich plötzlich beide Katzenmütter und liefen einträchtig die Treppe hinab. Die Menschen, die ihnen gefolgt waren, sahen dann im Keller die Speicher-Liese das nicht mehr bewohnte Kinderbett beschnüffeln, während Lore ihrerseits die frühere Feindin beobachtete, die nach getaner Inspektion abdrehte und davonzog, um nach kurzer Zeit zurückzukehren mit einem ihrer sechs Kinder im Maul, das sie in das leere Nest setzte. Worauf sie wieder spurte.

Den Menschen wurde ängstlich zumute. Was würde Lore nun tun? Würde sie das neue Kind annehmen oder rausschmeißen, vielleicht gar totbeißen? Man versuchte vorsichtig und, so gut man es verstand, ihr die Sache schmackhaft zu machen, aber Lore blieb unbeirrbar auf ihrem Platz sitzen und sah mit ihrem sonderbaren Katzenblick durch die Menschen hindurch geduldig zur Tür. Und dann erschien Liese mit einem zweiten Kätzchen, das sie zu dem quiekenden Geschwisterchen setzte. Als es schließlich ihrer drei waren, erhob sich Lore, um in aller Gemütsruhe ihre neuen Kinder zu betreuen, während Liese sich ohne weiteres Getue auf den Speicher zu ihren drei restlichen Babys verzog.

Es läuft einem das Wasser im Mund zusammen bei all den sich hier aufdrängenden freundlichen Vermutungen, nicht zuletzt bei der, die Speicher-Liese habe wahrhaftig bis drei zählen können. Aber es wird ja streng und mit Recht davor gewarnt, an Tiere menschliche Maßstäbe anzulegen; in der Tat können und werden wir ja auch nie erfahren, was in diesen beiden Katzenköpfen vorgegangen ist. Aber eine Schlußfolgerung kann man mir nicht als nebensächlich ankreiden: Es ist nie verkehrt, wenn in Krisen- oder Notzeiten auch das zusammenhält, was sich sonst nicht so recht grün ist...

Es wäre gar nicht schlecht, wenn sich diese Binsenweisheit auch in Menschenkreisen herumspräche; auch von Menschen sollte man doch erwarten dürfen, daß sie bis drei zählen können.

Was Liese und Lore angeht, so fauchten sie sich auch später bei Begegnungen wieder an, aber die menschlichen Augenzeugen wurden den Eindruck nicht los, als sei das nur noch der Form halber!