Eine Reise ohne Wiederkehr

Kindheitserinnerungen an die Kriegsjahre

Franz Josef Ferber, Hörschhausen

 

Jedoch der schrecklichste der Schrecken,

das ist der Mensch in seinem Wahn.

F.v.Schiller

Es war im Herbst vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Wie sooft, standen wir, unsere Familie und unsere Nachbarn, auch in dieser Nacht draußen, um die feindlichen Flugzeuge zu beobachten, die ständig in großer Zahl unser Dorf überflogen. Wir waren aus unseren warmen Betten aufgestanden aus Furcht, im Falle eines Bombenwurfs verschüttet zu werden.

In dieser kühlen Nacht, die frösteln ließ, war es besonders unruhig am Himmel. Wie fortwährendes Donnergrollen brummten und heulten Flugzeuge, unaufhörlich waren Leuchtzeichen am sternenlosen Firmament wahrnehmbar. Plötzlich ein starkes Aufheulen von Flugzeugmotoren. Und schon sah man ein schweres Flugzeug, einer riesigen Fackel gleich, brennend am Kastelberg, an Horperath vorbei, immer tiefer fliegen und kurz danach hinter dem Hochwald versinken. Ein darauf folgender ungeheurer Knall signalisierte das Aufschlagen der Maschine auf dem Boden. Dann wurde es still. Von der Absturzstelle her war nur noch ein anhaltendes Leuchten wahrzunehmen.

Tags darauf hatte es sich schnell herumgesprochen, daß ein »viermotoriger amerikanischer Bomber«, so hieß es, in der Nähe von Kötterichen abgestürzt sei. Für meine Kameraden und mich — wie hätte es auch anders sein können? — galt es nun, das Flugzeug, besser gesagt, das, was von ihm übriggeblieben war, zu besichtigen. Dem stand jedoch ein ernsthaftes Hindernis entgegen: der Wille unserer Eltern bzw. unserer Mütter. Sie waren ganz anderer Meinung. Es bedurfte schon einer guten Portion Überredungskunst, sie umzustimmen. Widerwillig gaben sie unserem Drängen nach. Zuvor hatten sie uns das Versprechen abgenommen, die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen zu beachten und vor dem Anbruch der Dunkelheit wieder daheim zu sein.

So zogen wir also nachmittags mit etwa fünf Jungen, wovon ich der Jüngste war, los. Unser Weg führte über den Klopp, an Horperath vorbei durch eine Heide und schließlich in einen dichten Wald, der die amtliche Flurbezeichnung »Auf dem Galgen» hat. Nach etwa einer halben Stunde des Weges erreichten wir ein Waldstück, das von alten Kiefern bestanden war. Eine Lichtung gab uns den Blick frei auf Kötterichen. Gleich dahinter sahen wir den Wald, aus dem dünner Rauch emporstieg. Kein Zweifel, dies mußte die Absturzstelle sein. Über einen abgesendeten Feld- und Waldweg erreichten wir endlich den ersehnten Ort.

Was sich uns darbot, war ein Bild des Grauens. In einer Fichtenschonung lag ein riesengroßes, luftbereiftes Flugzeugrad. Dergleichen hatte ich mein Lebtag nicht gesehen. Alles, was ich da erspähte, war mir fremd. Auf der anderen Seite des Waldweges, zwischen abgeknickten Bäumen, lagen verstreut alle sonstigen Überbleibsel des Flugzeuges, lange Tragflächen und unzählige Einzelteile, brennend, glimmend, rauchend. Von weitem war eine halbverkohlte Menschenleiche gerade noch erkennbar. Die Kunde ging um, es handele sich um eine tote Frau. Ich konnte sie nicht als solche ausmachen und hatte die größte Mühe, sie mir als dahingeschiedener Mensch vorzustellen. Einige der Neugierigen glaubten, hoch droben in den Kiefernbäumen eine weitere Leiche an einem Fallschirm baumelnd zu erkennen. Den Umständen nach schien mir diese Beobachtung nicht abwegig zu sein. Doch konnte ich durch das Geäst nur einen zerfetzten Fallschirm sehen. Nun, er konnte kaum allein herabgekommen sein. Vielleicht hatte der tote Soldat an ihm gehangen, der am Wegrain lag. Dieser Anblick war entsetzlich.

Da lag er nun in zerfetzter Soldatenuniform, ein Amerikaner, ein Feind, wie man sagte. Seine Schädeldecke war zertrümmert, sein Körper zerschunden, seine gebrochenen Augen starrten ins Leere. An einem Finger seiner blutverschmierten Hand trug er einen goldenen Trauring. Ringsum ein Getümmel von Menschen. Sie, Junge und Alte, waren von nah und fern herbeigeeilt. Unter ihnen befanden sich viele Jungen, die, nach Brauchbarem und Andenken suchend, in den Wrackteilen herumstocherten oder daran hantierten. Andere wiederum durchwühlten den Boden. Dazwischen schritt ein hagerer Gendarm mit bläßlichem Gesicht. Es war ihm offenbar aufgetragen, die Menschenmenge von dem Trümmerfeld zurückzudrängen. Dies konnte er naturgemäß nicht schaffen. Er war einfach überfordert.

Manche der Dastehenden rätselten: War der Tote am Wegrand etwa der Flugzeugführer? Einige glaubten, dies an der Uniform erkennen zu können. Im übrigen scherte sich niemand weiter um ihn. Vor allen Dingen war keiner da, der sich anschickte, den Toten von hier wegzuschaffen.

Bei allen diesen Eindrücken stieg ein Gefühl in mir auf, das ich bis dahin nicht kannte. Es war eine Art Mischung von Entsetzen, Mitleid und Ratlosigkeit. In diesem elenden Zustand hatte ich keinen sehnlicheren Wunsch, als unvermittelt diese Stätte des Grauens zu verlassen.

Auf dem Heimweg kam mir eine Fülle seltsamer Gedanken in den Sinn. Fragen über Fragen! Weshalb begrub man die Toten nicht, sondern stellte sie zur Schau? Hatte uns doch kurz zuvor unser Herr Pastor eingeredet, es gehöre zu der Pflicht eines jeden Christenmenschen, Barmherzigkeit zu üben; hierzu gehöre auch das Begraben von Toten. Weshalb wurden diese christlichen Lehren mißachtet? Hatten diese Leute dort einen anderen Pastor, der die Werke der Barmherzigkeit nicht eindringlich genug gelehrt hatte? Wenn auch nur ein einziger der Neugierigen daran gedacht hätte, den Unglücklichen mit Tannenzweigen zuzudekken. Das hätte fürs erste genügt. Aber halt, möglicherweise war das verboten. Ich war untröstlich.

Was sonst das Schicksal des Toten am Wegrand betraf: Würden seine Kinder nicht auf eine glückliche Wiederkehr ihres Vaters warten, so wie einige von uns, wenn dieser häßliche Krieg einmal zu Ende sei? Wie entsetzt müßten diese Kinder hinter dem Ozean sein, wenn sie ihren Vater so daliegen sähen. Sie würden ihn vielleicht nicht mehr wiedererkennen. Für sie würde er, wie für mich, irgend ein Fremder sein. Aber Mitleid würden sie trotzdem mit ihm haben. Auch sorgte mich, wie es wohl der Seeledes toten Soldaten im Jenseits ergehen müßte. Wie schnell war doch sein Flugzeug boden-wärts geschossen! Schließlich tröstete ich mich damit, daß seine Schuld nicht allzu groß sein könnte. Vielleicht war es sein erster Flug gewesen. Und möglicherweise hatte er noch keine Bomben über Deutschland geworfen. Und die Bomben, die »Auf der Wüstenheide« und in der »Nerberheid« gefallen waren, hatten schließlich niemanden verletzt. Der Gedanke, daß der Tote irgendwann beerdigt werden müsse, war für mich ein schwacher Trost. Unweigerlich folgten Zweifel. Er würde doch nicht etwa wie ein Tier verscharrt werden? Das könne und dürfe nicht sein! Der Herr Pastor würde das gewiß nicht zulassen.

Solche und ähnliche Gedanken quälten mich, und ich merkte kaum, daß wir uns bis auf paar Schritte unserem Dorf genähert hatten. Die Abenddämmerung war bereits hereingebrochen. Ohne viele Worte ging ich zu Bett. Ein kleines Abendgebet ließ mich diesen schrecklichen Tag in meinem Leben für eine Nacht vergessen.

Viele Jahre sind seitdem vergangen. Und ich denke noch oft an den fremden Fliegersoldaten, dem der Flug nach Europa zu einer langen Reise wurde, zu einer Reise ohne Wiederkehr.