Der Tod eines Bullen

Erich Mertes, Kolverath

 

Die nachstehende Erzählung beruht auf einer wahren Begebenheit. Sie hat den Verfasser so bewegt, daß er seitdem kein Fleisch mehr ißt. Es geschah vor Weihnachten 83. Ein Viehtransport wurde zusammengestellt. Aus den umliegenden Dörfern der Bezirkshauptstadt brachten die Bauern ihre Kälber, Rinder, Kühe, Ochsen zur Verladestation. Ein routinemäßiger Vorgang für die Bauern und Metzger. - Ein einmaliges Erlebnis für die Betroffenen. Unter ihnen befand sich auch unser Brauner, der Bulle. Wir nennen ihn einfach Adol. Adol war beim Bauern aufgewachsen. Er war gelehrig und klug, deswegen hatte man ihn mit Aufgaben betraut, für die mancher Hornochse zu dumm war. Es war ihm gutgegangen, er liebte den Stall, die saftigen Wiesen im Sommer, und er liebte seine Kühe, seine Söhne, seine Töchter.

Alles, was er tat, hatte ihm der Bauer vorgegeben. Deshalb mochte er auch den Bauern, er hatte Vertrauen zu ihm. Der Bauer war sein Freund, auf ihn konnte er sich verlassen. Daher zauderte Adol auch nicht, als sein Bauer ihn zum Bahnhof führte. Willig folgte er ihm zur Verladerampe. Selbst unterwegs und beim Ausladen im großen Hof hatte er keinerlei Bedenken und beruhigte seine Gefährten durch sein Verhalten. Er hoffte, im großen Sammelhof seinen Bauern wiederzufinden. Aber der war nirgends zu sehen.

In dem allgemeinen Gedränge nach vorne zum Tor der Halle wurde Adol plötzlich stutzig. Da vorne rumorte es, da war ein Sträuben und Zerren, dann krachte ein Schuß, darauf für Sekunden Stille. Und wieder begann das Sträuben und Zerren und Krachen, immer wieder von neuem, während einer nach dem anderen durch den Eingang gedrängt wurde. Blitzschnell erkannte er die Situation: »Die werden ja alle umgebracht«, brüllte er, »wo ist denn bloß mein Bauer?« Aber niemand hörte ihn.

Die furchtbare, tödliche Gefahr brachte ihn von Sinnen, er geriet in Raserei. Wie ein Berserker schlug er um sich, zerbrach die Absperrung und stürzte voller Panik nach draußen, überquerte den Hof und kam unbehelligt auf die Straße. Niemand folgte ihm. Da wurde er langsam wieder ruhiger und ging friedlich seines Wegs, ohne jemand zu belästigen. Er wollte nichts als nach Hause, zurück in den warmen Stall.

»Wo nur mein Bauer ist«, dachte er bei sich, »der weiß davon bestimmt nichts, der würde das nicht dulden.« Es war ihm unbekannt, daß Menschen über weite Entfernungen miteinander sprechen können, und so ahnte er auch nicht, daß sein Bauer soeben ein Ferngespräch mit der Polizei führte. Ein Todeskommando rückte aus, während Adol friedsam bei den Eisenbahnschienen ankam. Gemächlich trottete er die Gleise entlang, bis die ersten Schüsse fielen. Da packte ihn abermals die Panik, er stürzte los, rannte Amok und bedrohte jeden, der ihm den Weg versperrte.

Am Bahnübergang stellte man ihn. Vier Schützen feuerten ihre Magazine leer. Er hatte keine Chance. Zu Tode getroffen, stürzte er auf die Schienen. Im Fallen noch dachte er an seinen Hof und den Bauern. - Die Leiche wurde mit einem Lkw weggefahren, eine Blutlache blieb auf dem Bahndamm zurück.

Am nächsten Tag hing ein großes Plakat im Schaufenster: Frisches, saftiges Rindfleisch, heute im Sonderangebot. Rinderhirn besonders preisgünstig.

Irgend jemand sagte: Solange die Menschen noch Tiere schlachten, so lange führen sie auch noch Menschen zu Schlachten. - Und einer vom Tierschutz hielt eine lange Rede. Danach ging er hin und kaufte sich ein großes Steak.