Ein Klassentreffen in Mehren

Gedanken und Erlebnisse eines Klassenlehrers

Theo Pauly, Gerolstein

 

Einladungen können Freude bereiten, manchmal Verlegenheit, können zuweilen gar lästig sein. Eine Einladung zu einem Klassentreffen, zumal wenn dies erst nach vielen Jahren erfolgen soll, löst meist Freude und Gespanntsein aus, weckt aber auch Erinnerungen, die längst im Streß des Alltags verschüttet waren. Ob man die einzelnen noch wiedererkennen wird? Wie mag es jedem ergangen sein, seit man nach der Schulzeit auseinanderging? Fragen, die ein solches Klassentreffen mit großer Spannung erwarten lassen.

Die Freude und Spannung auf ein solches Treffen löst beim eingeladenen ehemaligen Klassenlehrer noch weit mehr Überlegungen aus: Aus Erfahrung weiß er, daß er seine ehemaligen Schülerinnen und Schüler ganz gewiß nicht mehr alle erkennen wird. Werden die Namen der einzelnen ihm zumindest noch im Gedächtnis geblieben sein? Wird er sich die einzelnen wenigstens noch als Kinder in der Schulbank vorstellen können? Werden die ehemaligen »Zöglinge« ihn in guter oder schlechter Erinnerung behalten haben? Werden sie sich über sein Kommen freuen, oder haben sie ihn nur eingeladen, weil das so üblich ist bei Klassentreffen?

Einige Fixpunkte aus der Zeit, da er als Lehrer vor dieser Klasse stand, sind ihm in Erinnerung geblieben. An einzelne Begebenheiten erinnert er sich gern, an andere weniger gern, weil es auch Situationen gegeben hat, in denen er, aus heutiger Sicht, falsch oder ungerecht gehandelt und behandelt hat. Werden ihm die Betroffenen verziehen haben? Die Freude jedoch über die Einladung überwiegt die Unsicherheit. Er hat ja seinerzeit schließlich versucht, sein Bestes zu geben, auch wenn es ab und an daneben ging. Die Einladung der Einschulungsjahrgänge 1950 bis 1954 aus der ehemaligen Volksschule Mehren erreichte mich ausreichend lange vor dem Termin des Treffens. Man hatte genügend Zeit, seine anderweitigen Termine abzustimmen. Eines stand für mich jedoch sofort fest: dieser Einladung würde ich Folge leisten, komme, was da wolle! Waren es doch die Schulerinnen und Schüler, bei denen ich 1954 meine ersten Gehversuche als junger Lehrer gemacht hatte. Mit wieviel Enthusiasmus war ich damals angetreten, bereit, die Welt zu verändern und den Grundstein hierfür in die Herzen der mir anvertrauten Kinder zu legen; aber auch wieviel Unsicherheit hatte diese ersten beruflichen Schritte begleitet, gehemmt und verlangsamt! Aber »meine« Kinder hatten es mir leicht gemacht. Sie nahmen mich vorbehaltlos als »ihren« Lehrer an; sie mochten gespürt haben, daß ich es ehrlich meinte und wie sehr ich sie ins Herz geschlossen hatte. Sie schlössen mich als Gegenleistung in ihre kleinen Herzen ein.

Es waren um die fünfzig Sechs- bis Zehnjährige, die erwartungsvollen, teils frohen, teils bangen und abwartenden Blickes den jungen Mann musterten, der ihnen von ihrem Schulleiter als »ihr« Lehrer vorgestellt wurde. Der Schulleiter machte kein großes Brimborium und überließ mich meinem Schicksal. Ich kann mich nicht mehr an das erinnern, was ich in diesen ersten Tagen »gelehrt« habe, aber ich sehe sie noch vor mir in ihren engen Schulbänken sitzen, und ich sehe im Rückblick nur frohe Gesichter, und bald auch wußte ich die einzelnen Mienen zu deuten, wenn etwa Karli oder Robert oder Alois oder Bernd einen Schabernack im Schilde führten. Unsinn und kleine Streiche wurden hinter meinem Rücken, aber auch vor meinen Augen durchgeführt.

Ohne das wären sie ja keine richtigen Jungen gewesen, die auch bald heraus hatten, wie weit sie gehen durften. Da setzte es schon mal Strafe, und beim Mittagstisch des Klassentreffens saß einer neben mir, bei dem ich mich entschuldigen wollte, weil ich ihn einmal ungerechterweise bestraft hatte - das war mir bis heute schuldhaft bewußt geblieben -, aber er antwortete lachend: »Davon spüre ich heute nichts mehr!« So waren sie, meine ehemaligen l-Dötze, in keiner Weise nachtragend, sich bewußt, daß, wenn immer sie Strafe erfahren hatten, diese, wenn auch nicht für die bestrafte vermeintliche Tat, so doch für eine andere, nicht entdeckte, angebracht gewesen war; und darum war sie akzeptiert worden.

Eine Luftaufnahme von Mehren zierte das Einladungsschreiben. Das Foto mußte neueren Datums sein, das bewiesen die vielen zu erkennenden Neubauten am Rande des alten Ortskerns. Auch ein Schulneubau war zu erblicken. Damals stand die Schule unmittelbar neben der Pfarrkirche. Das Gebäude steht heute noch und beherbergt die Filiale einer Bank.

Dort, wo ich damals bei der Oma Umbach ein Zimmer bewohnte, erhebt sich heute der Neubau der alteingesessenen Mehrener Metzgerei. Oma Umbach, die aus Steiningen stammte, als Waisenkind aber in Nerdlen groß geworden war, hat sich seinerzeit riesig gefreut, einen Logiergast aus der »Heed«, wie sie die Struth nannte, aufnehmen zu können.

Oft haben wir beide uns über frühere Verhältnisse in der »Heed« und gemeinsame Bekannte unterhalten. Die Oma hatte für solche Plauderstunden stets eine große Kanne Kaffee parat. Sie war überhaupt sehr besorgt um mein körperliches Wohlergehen, war doch da einer zu ihr in die Kost gekommen, der damals etwa so viele Kilo unter Normalgewicht aufwies wie heute darüber. Oma Umbach hatte sich in den Kopf gesetzt, mich herauszufüttern, und da ihr Sohn die Metzgerei betrieb, mangelte es nicht an Fleisch- und Wurstwaren. Sie meinte es so gut mit mir, daß sie stets darauf bedacht war, mir ein doppelt und dreifach belegtes Pausenbrot mitzugeben. Häufiger vergaß ich mit Absicht, es einzustecken. Oma fand immer noch ein Schulkind, das es mir nachbrachte; entdeckte sie das zurückgelassene Brot einmal zu spät, brachte sie es mir persönlich an die Klassentür. Gott mag ihr, die zwei Jahre nach meinem Weggang 83jährig verstarb, ihre Fürsorge und Güte belohnen!

Die Einladung zum Klassentreffen 1985 war von zwei ehemaligen Schülerinnen und zwei ehemaligen Schülern unterschrieben. Da ging es schon los! Drei Namen waren mir noch ein Begriff, aber der vierte! Der Geburtsname war der in Mehren am häufigsten vertretene. Infolgedessen waren unter den fünfzig Schülern von damals auch etliche dieses Namens. Da half mir auch der Vorname nicht weiter. Als wir uns dann in Mehren bei der Kirche gegenüberstanden, da dämmerte es langsam wieder. Elfriede mag mir verzeihen!

Ja, das Wiedererkennen! Es fiel nach über dreißig Jahren doch sehr schwer. Einzelne Gesichter waren dabei, die sich kaum verändert hatten, die nur reifer geworden waren - bei den Damen hübscher! Aber hier haperte es mit dem Namensgedächtnis. Andere hatten sich stärker verändert, da halfen die Namen, so daß letztlich doch wieder ein rundes Bild zustande kam: Ich sah sie im Geiste als Schüler vor mir sitzen, und das Bild vervollständigte sich immer mehr. Beruhigend für mich war, daß auch die ehemaligen Schüler untereinander ab und an Schwierigkeiten hatten beim Wiedererkennen. Es war ja auch eine lange Zeit vergangen, und manche von ihnen hatten sich viele Jahre nicht mehr gesehen. Aus allen Himmelsrichtungen und teilweise von weit her waren sie angereist. Eine Teilnehmerin war aus München gekommen und einer, der zwar nicht selbst hatte kommen können, hatte zumindest telegrafische Grüße aus Neuseeland übermittelt. So war man an diesem Tag wieder eine große Gemeinschaft geworden. Viele Dinge, an die man sich rückerinnerte, bildeten ein vielfältiges und buntes Erinnerungs-Mosaik, und manch ein Streich wurde wiedergegeben, von dem wir Lehrer damals erst gar nichts gewahr geworden waren.

Mir selbst wurde an diesem Tage deutlich bewußt, wie Wesen und Charakter eines Menschen schon im Kind angelegt sind und sich später, wenn überhaupt, so doch nur unwesentlich ändern. Sie alle, die ehemaligen Schülerinnen und Schüler, waren in ihrem Verhalten auch heute noch, wie sie sich damals in ihrer Schulzeit gezeigt hatten, die einen noch genauso selbstbewußt, mit flotten Sprüchen auf der Zunge, andere noch genauso schüchtern und zurückhaltend wie damals. Aber eines hatten sie auch heute noch genauso wie als Kinder, ihren Charme und ihre Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Alle waren sie zu anständigen Menschen herangewachsen, die im Leben ihren Mann stehen. Und diese Erkenntnis veranlaßte eine Kollegin zu dem Ausspruch: »Unsere Arbeit von damals kann so schlecht ja nicht gewesen sein!«

Damals haben wir jungen Lehrer geglaubt, Kinder formen und »gescheit« machen zu können. Heute wissen wir, daß wir allenfalls Lernprozesse bei Kindern in Gang setzen können, daß wir Kinder motivieren können und Hilfestellung leisten, sowohl beim Lernen von Wissen wie auch beim Lernen von sozialen Bezügen. Wissen erwerben kann jeder, auch ohne Lehrer, zum Leben gehört aber einiges mehr, und wir jungen Lehrer haben schon damals versucht, etwas mehr zu sein als nur Wissensvermittler. Die Erwachsenen von heute, bei deren Treffen wir als ehemalige Lehrer sein durften, haben uns durch manche Äußerung an diesem Tag spüren lassen, daß sie unser Wollen verstanden und angenommen hatten; sie haben uns durch ihre erworbene Fähigkeit, das Leben in allen seinen Situationen zu meistern, das gute Gefühl gegeben, vielleicht ein wenig zu dieser Lebenstüchtigkeit beigetragen zu haben. Ein gutes Gefühl, ein Gefühl, das manchen gegenwärtigen Frust wesentlich mildert.

Dafür möchte ich an dieser Stelle allen »Ehemaligen« von Herzen danken. Dieser Tag hat so wohl getan, daß man noch lange davon zehren kann. Den drei Kolleginnen und den beiden Kollegen, die ebenfalls als ehemalige Lehrer dabei waren, mag es ähnlich ergangen sein. Gewaltig gefreut haben wir uns alle, und der Bitte unseres ältesten Kollegen, zum nächsten Klassentreffen wieder eingeladen zu werden, schließe ich mich an.