Bei Annelien

Maria Kraemer, Oberbettingen

 

Auf dem Oberbettinger Dorffriedhof steht auf einem Hügel ein schön behauenes, aber schon sehr verwittertes Sandsteinkreuz. Die Schrift darauf besagt, daß da die ehrbare Jungfrau Anna Magdalena Schreiner, geb. am 31. 12. 1841, begraben liegt. Die Kinder und die Jugend können sich unter diesem Namen wohl kaum etwas vorstellen. Doch der älteren Generation ist die stille Schläferin, die zu ihren Lebzeiten einfach nur »Annelien« hieß, bestimmt noch ein lebendiger Begriff. Als Annelien starb, war ich noch lange nicht auf der Welt. Aus den Erzählungen meiner Mutter, in deren Elternhaus sie ein häufiger Gast am Mittagstisch war, ist Annelien mir, obwohl ich sie nicht mehr kannte, eine vertraute Gestalt. Annelien war eine zierliche Person. Sie hatte eine auffallend kräftige, fast etwas männliche Stimme. Daran war wohl das erdene Pfeifchen, welches sie mit wahrer Leidenschaft rauchte, schuld. Eine Schulbildung hatte Annelien nicht. Sie war aber durchaus keine dumme Person, sondern mit einer gehörigen Portion Mutterwitz ausgestattet. Wurde sie nach ihrem Alter gefragt, dann war jedesmal die Antwort: »E bisje mieh wie achzehn!«

An der Straße zwischen Oberbettingen und Scheuern, etwa fünf Minuten vom Dorf entfernt, lag Anneliens Besitztum. Sie wohnte in einem kleinen Haus aus Sandstein, das nicht einmal verputzt war. Obendrauf ein strohgedecktes Dach. Die Inneneinrichtung des Häuschens war denkbar einfach. In der Haustür war unten ein rundes Loch, damit ihre Katze frei aus- und eingehen konnte. Machte man die Hautür auf, war man in der Küche. Das rauchgeschwärzte kleine Fenster ließ nicht viel Tageslicht herein. Dort war der offene Kamin, »Hascht« genannt, und darunter die offene Feuerstelle. Ein Haken, woran das Küchengeschirr aufgehängt wurde, gehörte noch dazu. Ein Tisch und ein Schemel vervollständigten die Einrichtung. Hinter dieser Küche war ein zweiter Raum. Das war Anneliens Schlafkammer. Dort stand das Bett. Unter dem Bett hatte sie ihre Kartoffelkaul. Daneben stand der Hauklotz mit der Axt. Was sonst noch drin war, weiß ich nicht. Wird kaum viel gewesen sein.

Annelien hatte gutes frisches Quellwasser. Dieses wurde dem sogenannten »Potz« entnommen. Sie hatte ein kleines Feld, etwas Garten und etliche Zwetschgenbäume. Diese Bäume wurden, wenn die Zwetschgen reif waren, von Annelien streng bewacht. Die Dorfjungen bekamen aber ihr Teil davon ab. Während Annelien von einem Jungen geärgert und damit abgelenkt war, wurden unterdessen die Bäume von den anderen geplündert.

Im Dorf waren etliche Häuser, wo Annelien sich regelmäßig zum Mittagessen einfand. Sie war dabei sehr schnösisch. Wenn sie etwas in den Mund bekam, was ihr nicht schmeckte, so hatte sie keine Hemmungen, den Bissen mit allen Zeichen des Abscheus auf den Boden zu spukken. Milch für ihre vierbeinigen Hausgenossen bekam sie immer von Bauersleuten mit. Geld, um sich Tabak zu kaufen, hatte Annelien nicht. Aber sie organisierte sich doch welchen, das ging dann folgendermaßen zu: Fuhr ein Bauersmann morgens mit dem Gespann ins Feld, dann wurde er von Annelien angehalten. »Lot mech ens stoppe«, war ihre Bitte. Dann hieß es aufgepaßt. Denn wenn Annelien den Tabaksbeutel selber in die Hand bekam, dann war's um dessen Inhalt geschehen. Sie ließ den ganzen Tabak in ihre Tasche verschwinden. Der also Geprellte fuhr nun ohne Tabak ins Feld, um mit bösem Gesicht den ganzen Vormittag an der kalten Pfeife zu ziehen. Was muß der froh gewesen sein, wenn es Mittag läutete.

Oberhalb ihres Häuschens ging rechts ein Feldweg 'rauf. Dieser wurde früher sehr gerne von den Aueler und Steffeler Leuten benutzt,die damit ein gutes Stück auf der Straße verkürzten. Für diese Dörfer war Oberbettingen die gelegenste Bahnstation. Auch mußten sie durch Oberbettingen, wenn sie nach Hillesheim wollten.

Einmal ging eine Steffeler Frau den bereits erwähnten Feldweg entlang heimwärts. Zuvor wollte sie, da der Durst sie plagte, bei Annelien schnell eine Tasse Wasser trinken. Es sei noch gesagt, daß Annelien nur eine einzige Tasse besaß. Aus Gründen, die sich der geneigte Leser gewiß vorzustellen vermag, trank die Frau über dem Henkel. Als Annelien das sah, sagte sie: »Dir macht et jenau wie ech, ech tronken och üwer de Henk«.

Als Annelien mal bettlägerig krank war, ging der damalige Herr Pastor, wie sich das gehört, sein krankes Pfarrkind besuchen. Gleich beim Eintritt in das Häuschen rief ihm Annelien schon zu: »Sed su jot und schütt mir ens et Pöttche üss«, was der Angesprochene auch tat. Der zweite Satz war dann gewöhnlich: »Jitt mer ens jett Tubbak für en meng Hopp.« So wurde das Pfeifchen von Annelien genannt. Der gute geistliche Herr hat seinem Pfarrkind auch manches Päckchen Tabak geschenkt. Man könnte noch vieles von diesem Eifeler Original berichten. Doch das würde zu weit führen. Annelien war in der Umgebung eine bekannte Persönlichkeit. Als sie alt und pflegebedürftig wurde, nahmen gute Leute sich ihrer an und versorgten sie bis zu ihrem Tod. Von dem Häuschen und dem Garten mit den paar Obstbäumen ist keine Spur mehr vorhanden. Aber die Gemarkung heißt auch heute noch »Bei Annelien«,