Ühm, hollt mech möt!

Kindheitserinnerungen an den Nachbarn als Opa-Ersatz

Theo Pauly, Gerolstein

 

»Ühm«, oder »Mohn«, das waren für uns Kinder die Rufnamen für ältere Männer oder Frauen. Ein »Ühm« war in meiner Kindheit jeder, der etwa das Alter von 40 Jahren erreicht hatte. Jeder Mann in diesem Alter benahm sich auch wie ein »Ühm«: er trug womöglich einen Vollbart, zumindest aber einen Schnurrbart in irgendwelcher Form, entweder die ganze Oberlippe bedeckend oder mit über die Backen reichenden spitzen Enden, nach Kaiser-Wilhelm-Art, oder aber auch in der Art, wie ihn der damalige Machthaber trug, jedenfalls zierte eines jeden »Ühms« Gesicht dieses Zeichen der Männlichkeit. Ganz selten einmal verzichtete jemand auf dieses äußere maskuline Merkmal.

Ein »Ühm« bewegte sich immer nur gemessenen Schrittes, selbst dann, wenn von irgendwoher Gefahr drohte: ein »Ühm« war sich seiner Würde bewußt! Ebenso die »Mohn«. Eine Frau von vierzig und mehr Jahren, war sie nun verheiratet oder »loßledig«, sie fühlte sich als »Mohn«, benahm sich als solche und wurde auch als solche angesehen und behandelt. Nie wäre es einem Kind eingefallen, eine solche Frau mit ihrem Vornamen anzureden und sie etwa, wenn auch mit dem Zusatz »Tante«, mit »Tag, Tant Traud« oder ähnlich zu grüßen; es konnte immer nur heißen: »Tag, Mohn«, wobei allerdings der Hausname vorgesetzt wurde, so daß der Gruß dann etwa lautete: »Tag, Belse Mohn!«

Ein »Ühm« oder eine »Mohn« wurde auch nie mit »Du« angeredet; es hieß immer nur »Ihr« oder »Euch«. Selbst meine Großeltern redete ich noch so an, wobei meine Eltern schonfortschrittlich waren und sich von ihren Kindern mit »Du« anreden ließen. Vor Jahren traf ich einen Schulfreund, wir hatten gerade die Vierzig überschritten, und er meinte im Gespräch: »Stell dir vor, ein Kind würde dich heute auf der Straße grüßen und sagen »Tag, Ühm!« Was würdest du dazu sagen und von dir selbst halten?« Ich konnte es mir nicht vorstellen. Ich bin aber trotzdem sicher, daß Kinder und junge Leute den älteren Mitmenschen gegenüber auch heute noch den gleichen Respekt aufbringen wie wir damals, die wir Leute in dem Alter, in dem ich mich selbst jetzt befinde, mit »Ühm« anredeten.

In unserem Nachbarhaus zur Rechten wohnte »Suffeien Ühm«. Er war damals so um die Siebzig. Schlohweißes Haar trat füllig unter seiner Mütze hervor, und sein Gesicht zierte ein ebenso weißer Vollbart. Er befand sich auf dem Altenteil, d. h. er war von allen bäuerlichen Arbeiten suspendiert. Einzige Aufgabe war die Aufsicht über die hauseigenen Kinder. Aber die waren mittlerweile so groß, daß sie sich einfach seiner Aufsicht entzogen und das letzte noch so klein, daß es seiner Aufsicht noch nicht bedurfte. So hatte er Muße, seine Zeit nach freiem Willen und Entschluß zu verbringen. Was lag näher, als daß er Besuche in der Nachbarschaft durchführte. Und so war »Suffeien Ühm« für mich eine Bezugsperson geworden, die ohne weiteres Familienmitglied hätte sein können. Ich vertraute ihm wie dem eigenen Großvater, zumal im eigenen Hause keiner mehr vorhanden war, und war glücklich, ihn auf seinen Gängen durch Dorf und Flur oder aber auch zu seinen Gesprächspartnern in der Nachbarschaft begleiten zu dürfen. Ich erinnere mich, regelrecht auf der Lauer gelegen zu haben, um nur ja nicht zu verpassen, wenn »Suffeien Ühm« vorbei ging. Kam er dann am Haus vorbei, eilte ich auf ihn zu und fragte erwartungsvoll: »Ühm, hollt da mech möt?« Wenn er dann nickte oder »Ja« sagte, war ich glücklich, legt meine kleine Hand in seine große, fühlte mich wohlgeborgen und ließ mich führen. Ab und an aber hatte er vor - so sehe ich es heute - mit seinen Gesprächspartnern Dinge zu diskutieren, die nicht unbedingt für das Ohr eines vorwitzigen Jungen gedacht waren. Dann wußte er mich abzuwimmeln, indem er sagte: »Ich gehe in Kondall, mir die Füße waschen.«

Nun war Kondall ein Waldstück, das mir sicher schon vom Namen her ein wenig Furcht einflößte. Ich wußte, wo Kondall war und daß hier ein kleiner Bach herunterfloß, und ich konnte mir vorstellen, daß man hier sehr wohl seine Füße waschen konnte. Aber dorthin mitzugehen, traute ich mich nicht recht, und so ließ ich »Suffeien Ühm« dann ziehen und wandte mich anderen wichtigen kindlichen Tätigkeiten zu.

Einmal aber habe ich »Suffeien Ühm« erwischt und festgestellt, daß er mich angelogen hatte. Meine Frage und Aufforderung »Ühm, hollt mech möt!« hatte er beantwortet, er gehe wieder »in Kondall die Füße waschen«. Nun aber sah ich sein weißes Haar aus dem Fenster des Nachbarn »Wolles Juppes« herausschimmern. Warum hatte er mich diesmal nicht mitgenommen? Sonst durfte ich doch immer mit, wenn er Juppes aufsuchte! Ich war unwahrscheinlich traurig und fühlte mich von einem lieben Menschen betrogen. Ich muß ihm, dem Suffeien Ühm, das auch wohl verständlich gemacht haben. Jedenfalls hat er mich fürderhin immer mitgenommen und hat es sogar fertig gebracht, daß ich mitging, »in Kondall die Füße waschen«. Das Wasser dort war stets prickelnd kalt, aber saubere Füße hatten wir beide hinterher immer, und waren die Strümpfe wieder angezogen, waren die Füße wohlig warm.

Dann starb »Suffeien Ühm«. Er war die erste Leiche, die ich in meinem Leben gesehen habe. Friedlich lag er da, und ich fürchtete mich nicht vor ihm; und ich habe fleißig geholfen zu beten, daß er in den Himmel kommen möge.