Wenn da eine Puppe »baumelt«

Der Strohpuppenbrauch in der Dorfgemeinschaft

Alexej Sesternheim, Üxheim-Ahütte

 

In den fünfziger Jahren stand hinter dem letzten noch stehengebliebenen Üxheimer Fachwerkhaus neben dem damals üppig mit Hek-ken und Bäume umgebenen Kirchenvorplatz ein Strom- oder Telegrafenmast. Eines Tages, beim Weg zu einem der kleinen Dorfläden erblickte ich hoch an diesem Mast eine lebensgroße Strohpuppe, grob gearbeitet, aber Kopftuch und Rock deuteten darauf hin, daß sie eine Frau darstellen sollte.

Wie ich mir aus Andeutungen und Gesprächen Erwachsener notdürftig zusammenreimen konnte, war der Anlaß dazu die Heirat einer Frau, welche früher mit einem Mann aus unserem Dorf gegangen war. So wie ich es damals verstand, sollte die Puppe noch einmal für alle deutlich machen, wie er verlassen worden war, und wie er nicht in der Lage gewesen war, diese Frau festzuhalten.

Als mir vor einigen Jahren dieser Brauch in Erinnerung kam, war ich zunächst entsetzt. Inzwischen hatte ich oft über unsere Dorfgemeinschaft nachgedacht und neben schönen Erinnerungen war immer wieder die Frage aufgetaucht: Kann man das eine Gemeinschaft nennen, wo sich der Stärkere gegenüber dem Schwächeren radikal durchsetzt? Zum Beispiel, wenn die ältesten Jungen sich die beim Kleppern in den Kartagen verdienten Eier fast alle zuteilen und die Jüngsten mit ein oder zwei abgespeist werden.

Zum Beispiel, wenn die halbe Dorfkinder-»Gemeinschaft« feixend zusieht, wenn einem anderen, weil er keine Hausaufgaben hatte und er den Lehrer aus Angst belogen hatte, Hiebe übergezogen werden. Ist das eine Gemeinschaft, wenn Familien, die ein kleines Häuschen bewohnen, wegen ihrer einfachen und

bescheidenen, vielleicht auch bequemen Lebensweise ausgelacht werden, weil sie keine »Streber« sind und sich nicht krummlegen, um mit einem Palast protzen zu können? Mir kam also der schreckliche Verdacht, daß auch dieser Strohpuppenbrauch aus einer ähnlichen Haltung heraus geübt werden könnte: Ein Mann kam mit der Beziehung zu seiner Freundin nicht mehr zurecht. Vielleicht mußte oder wollte er sich ganz einfach mehr Zeit und Erfahrung lassen, bevor er sich festlegte. Wurde dieses vorsichtige Verhalten ihm als »Fehler« oder »Schwäche« angelastet und sollte es nun noch einmal als warnendes Beispiel für alle festgehalten werden? Sollte seinem inneren seelischen Leid nun auch noch die öffentliche Bloßstellung folgen - ähnlich wie damals oft ein Kind, das hingefallen war, noch dazu ausgeschimpft wurde oder einen hintendrauf bekam?

Aber wie kann man sich nur am Liebesleid eines ändern weiden? Wieviel eigenes Leid muß hinter der Schadenfreude versteckt werden? Wieviel Angst und eigene Narben haben die Seele so abgestumpft, daß man nicht mehr spürt, was man dem anderen antut? Wer andere auslacht, verachtet, der lacht sich selber aus, verachtet sich selbst. Jeder macht »Fehler« und hat »Schwächen« oder ist in Gefahr, sie zu bekommen. Wer einen scheinbar am Boden liegenden Menschen auslacht, muß selber höllische Angst haben vor dem Fallen.

Denn in seinem Denksystem sieht er sowohl im Fallen etwas Schlimmes als er es auch als selbstverständlich annimmt, daß er nach einem Fall verspottet wird.

Und wie schnell fällt man! Der Mann mit der zerbrochenen Liebe hat es erlebt. Er hat nichts mehr zu verlieren und erkennt in dem Moment die Hohlheit dieser Moral. Doch die anderen, die lachen, sind in einer viel schlimmeren Lage: Sie haben noch nicht verstanden, daß »Oben« und »Unten« dumme menschliche Truggebilde sind. Sie fühlen noch nicht, daß wenn nur ein einziger Mensch im Dorf fertiggemacht wird, letztenendes jeder fertiggemacht wird, der sich nicht eindeutig auf die Seite des Gedemütigten stellt.

Von dem Tag an, wo zum ersten Mal diese Puppe hing, mußte jeder im Dorf Angst vor Schwierigkeiten in seinen Liebesbeziehungen haben. Und jeder hat sie! Hinfort lebte das ganze Dorf in Angst davor. Und niemand konnte mehr darüber sprechen! Denn von nun an muß jeder fürchten, beim ersten Zeichen einer Krise ausgelacht zu werden, statt Hilfe erwarten zu können. Nur nicht nach außen zeigen, wie es innen aussieht!

So kommt es dann zu den verhärteten und übertünchten Pharisäergräbern, von denen Jesus manchmal sprach. Was hier für ein Dorf gesagt wurde, gilt für jede Familie, Gruppe oder Schulklasse, für jeden Betrieb und jedes Volk und für die ganze Welt. Es gilt sogar zwischen Lebewesen verschiedener Art und zwischen belebter und unbelebter Natur. Alles ist miteinander verbunden. Was ihr dem geringsten eurer Brüder getan habt und sei es die Schnecke an den Salatblättern im Garten, das habt ihr euch selbst angetan - im Guten wie im Bösen.

Es wäre sicher höchst aufschlußreich, die Entstehungsgeschichte und ursprüngliche Bedeutung des Strohpuppenbrauches zu erforschen. Mir geht es jedoch darum, exemplarisch an diesem Brauch die beiden Blickwinkel aufzuzeigen, unter denen man sämtliche Bräuche und Sitten betrachten und ausführen kann: Fördern sie das friedliche und lebensfrohe Gemeinschaftsleben, dienen sie also dem »Willen Gottes«, oder zerstören sie Leben, Vertrauen und Zusammenhalt in der Gemeinschaft?

Als die Dorfgemeinschaften noch intakt waren und die sogenannten »Schwachen« und »Sensiblen« noch geschützt, als die Menschen noch gesunde Egoisten waren und begriffen, daß aller Schicksal miteinander verbunden ist, als sie noch fühlten, daß man im eigenen Interesse (!) den Nächsten lieben sollte wie sich selbst, vielleicht wurde damals schon der »Strohpuppenbrauch« gepflegt, - nur unter völlig anderen Vorzeichen.

Man kann sich vorstellen, wie die Menschen in einer vertrauensvollen Umgebung dem Betroffenen zu verstehen geben wollten: »Wir wissen von deinem Schmerz. Du brauchst ihn nicht zu verstecken. Für eine Woche trägt das ganze Dorf mit dir daran. Du kannst jederzeit mit uns über die Ursachen deines Scheiterns sprechen, - wenn du es willst. Vielleicht kann dir einer helfen. Wir haben alle schon ähnliches erlebt. Und wenn die Woche der Trauer mit der Puppe vorbei ist, dann kannst du neu anfangen. Der Große Geist gibt jedem Lebewesen mit jedem Tag neues Leben. So wollen wir es auch untereinander halten.«

Ein solches Dorf würde den Namen »Gemeinschaft« verdienen. Dort würde sich niemand in Konflikten einfach auf die Seite des Mächtigen schlagen; dort würden die Schwächeren und Nachdenklicheren geschützt und ernst genommen - zum Nutzen aller! Dort würden einfache Bauern Gottes Erde nach gemeinsamer Absprache bebauen statt nur zu sehen, wie sie für sich allein ihr Schäfchen ins Trockene bringen. Dort würde der einzige Beruf, der für die Erzeugung des täglichen Brotes wirklich notwendig ist, der Bauer ge - achtet statt ver - achtet werden, und dann müßten sich auch nicht die Nachkommen auf Gedeih und Verderb andere Berufe suchen, in denen sie oft meinen, ohne Rücksicht auf Mensch und Umwelt immer mehr Geld machen zu müssen. Dort würde Gottes Reich der Liebe und Wahrheit herrschen oder, um mit einem indianischen Sprichwort zu schließen: Dort gäbe es keinen Mißerfolg, außer man versuchte, jemand anderer zu sein, als der, der man ist.