Dort unten in der Mühle

Im Volkslied lebt der Arzt und Dichter Justinus Kerner fort

Hans Mühlhaus, Darscheid

 

Im alten Volksschullesebuch stand ein Gedicht, das sich einer besonderen Beliebtheit erfreute: »Der Wanderer in der Sägemühle«. Der Dichter war Justinus Kerner (1786 -1862), ein Arzt aus Weinsberg bei Heilbronn im Neckarkreis. Er wird in der Literaturgeschichte dem Schwäbischen Dichterkreis zugeordnet. Zu ihm gehörte auch Ludwig Uhland, der zu Deutschlands bleibenden Dichtern gehört und mit Justinus Kerner lebenslänglich in treuer Freundschaft verbunden blieb.

Ein Kulturdenkmal des Kreises Daun: Die Schneidmühle (Sägemühle) im Tal des Lohsalmbaches bei Meisburg, die der Familie Josef Schneider gehört, kann jederzeit wieder den Betrieb des Holzschneidens aufnehmen. Das Mühlenrad hat einen Durchmesser von 7 m. Es wurde bewegt durch das Bachwasser, das ihm in einem Holzkanal zufloß. Die Achse des Riesenrades endete im Getrieberaum, in dem die gewaltige Kraft umgeleitet wurde auf das zweiblätterige Vertikalgatter, das in der großen Schneidehalle, dem Oberteil des Sägewerkes, zu sehen ist. Heute ist man nicht mehr auf die Kraft des Wassers angewiesen, die Stromenergie hat sie abgelöst.

Als Arzt war J. Kerner viel zu Fuß unterwegs, was ihm, dem reichbegabten Lyriker, sehr zugute kam. Einstens, als er in melancholischer Stimmung von einem Krankenbesuch heimwärts ging, führte sein Weg durchs Mühlen-bachtal, wo die alte Sägemühle stand. Das war ihm sehr recht, denn dort wußte er ein Plätzchen, wo er allein, inmitten einer belebten Natur, eine Pause machen konnte, die ihm Entspannung und Ruhe schenken sollte.

Der Bach rauschte. Das schwerfällige Mühlrad drehte sich müde, aber seine gewaltige Kraft versetzte die Säge in eine rasende Geschwindigkeit. Langsam und sicher bewegte sich das kreischende Sägeblatt auf den langen, festgebundenen Tannenstamm zu und schon griffen seine Zähne. Der Baum zitterte, seine Stimme klang wie ein gedämpftes Singen. Das Lied galt ihm, dem Wanderer. Er horchte und horchte, er verstand jedes Wort, sein Herz klopfte und er erhob sich, um zu antworten, ein Fragewort nur, aber da war der so erregende Vorgang beendet. Der Baum war zerschnitten. Die Säge stand still.

Wir fragen nach dem Lied, das die Tanne gesungen hat. Wir möchten auch das kleine Wort, das Fragewort, hören, das der Wanderer noch stellen wollte. Hört zu! Es spricht zu uns:

Der Wanderer in der Sägemühle

 

Dort unten in der Mühle

saß ich in süßer Ruh

und sah dem Räderspiele

und sah den Wassern zu.

 

Sah zu der blanken Säge,

es war mir wie ein Traum,

die bahnte lange Wege

in einen Tannenbaum.

 

Die Tanne war wie lebend,

in Trauermelodie,

durch alle Fasern bebend

sang diese Worte sie:

 

»Du kehrst zur rechten Stunde,

o Wanderer, hier ein,

Du bist 's, für den die Wunde

mir dringt ins Herz hinein!

 

Du bist 's, für den wird werden,

wenn kurz gewandert du,

dies Holz im Schoß der Erden

ein Schrein zur langen Ruh. «

 

Vier Bretter sah ich fallen,

mir ward's ums Herze schwer,

ein Wörtlein wollt ich lallen,

da ging das Rad nicht mehr.

Zur Interpretation: Das Lied der sterbenden Tanne hat den Wanderer zutiefst erschüttert. Eine Frage bedrängte ihn, sie blieb jedoch unausgesprochen. Eine Antwort darauf, wann es sein wird, bleibt, wie bisher, allen Sterblichen versagt.

Manche Prosa des Dichters ist im Laufe der Zeit versunken. Dieses Gedicht ist nicht nur zum volkstümlichen Lied geworden, es hat ein hohes Alter von über 100 Jahren erreicht. Es ist geblieben, weil es ein Kunstwerk ist, klein und bescheiden wie ein Veilchen, das im Verborgenen blüht.