Volkstrauertag

Meditationen zu einem Gedenk-Tag im November

Alois Mayer, Daun-Pützborn

 

Kalt ist es. Novemberwinde schütteln die letzten welken Blätter von mächtigen Bäumen. Frösteln überfällt die Menschen. Der Hauch des Atems wirkt nebelhaft.

Es ist Volkstrauertag. Leute stehen auf dem Friedhof inmitten zahlreicher mit Blumen, Kränzen und Kerzen geschmückter Gräber. Manche abgeordnet und befohlen, in Uniformen, Pechfackeln in Händen; viele freiwillig, doch alle in Gedanken von echtem Mit-Gefühl, wahrem Mit-Leid und tiefer Mit-Trauer.

Warum hat man sich versammelt? Was bewegt die meist älteren Menschen, die warme Stube zu verlassen, sich zwischen Gräber zu stellen, Lieder und Gedichte von Schülern und Reden von Offiziellen anzuhören? Nach dem Ersten Weltkrieg wurde durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge der Volkstrauertag im damaligen Reichsgebiet eingeführt. Man gedachte der Toten jenes Krieges. Doch das Motiv war nicht »befohlene« Trauer, sondern 'es sollte ein nicht übersehbares Zeichen der Solidarität derjenigen gesetzt werden, die keinen Verlust zu beklagen hatten, mit den Hinterbliebenen der Kriegstoten. Die erste offizielle Feierstunde fand 1922 im Deutschen Reichstag in Berlin statt. Paul Lobe, der damalige Reichstagspräsident hielt eine im In- und Ausland vielbeachtete Rede, in der er einer feindseligen Umwelt den Gedanken der Versöhnung und Verständigung gegenüberstellte.

Der Volkstrauertag wurde damals am fünften Sonntag vor Ostern begangen. Hitler erließ 1934 ein Gesetz, das den Volkstrauertag als Staatsfeiertag erklärte. Er wurde in »Heldengedenktag« umbenannt, und die Verantwortung für die Gestaltung dieses Tages übernahmen bis 1945 die Wehrmacht und die Partei; die Richtlinien über Inhalt und Ausführung erließ der Reichspropagandaminister.

Foto: Rita Gehendges, Daun

Nach der Gründung der Bundesrepublik wurde der Volkstrauertag erneut vom Volksbund eingeführt. Die Regierungen von Bund und Ländern sowie die großen Religionsgemeinschaften kamen überein, als Termin den zweiten Sonntag vor dem 1. Advent zu bestimmen. Seit 1952 wird nun der Volkstrauertag in der Bundesrepublik als nationaler Trauertag zum Gedenken der Opfer beider Weltkriege und der Gewalt in der Welt begangen.

Dies ist Geschichte. Und es werden Gedanken wach nach dem Sinn und Inhalt hier und heute. Wie kann ein ganzes Volk trauern? . . .Vierzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges? Gedanken sind frei; sie bewegen sich raumlos in den Zeiten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. So wird der Volkstrauertag zu einem Tag des Sich-Erinnerns, zu einem Gedenk-(Gedanken-)tag.

Gedanken gelten den Opfern von Krieg und Gewalt in unserer Zeit, den Soldaten, die in beiden Weltkriegen gefallen, ihren Verwundungen erlegen oder in Kriegsgefangenschaft gestorben sind.

Gedenken gilt den Frauen, Kindern und Männern, die durch Kriegshandlungen, im Bombenhagel, auf der Flucht oder bei der Vertreibung aus ihrer Heimat ihr Leben lassen mußten. Gedacht wird all derer, die unter Gewaltherrschaften Opfer ihrer Überzeugung oder ihres Glaubens wurden, und all derer, die ums Leben kamen, weil sie einem anderen Volk angehörten oder einer anderer Rasse zugerechnet wurden. Und gedacht wird der Männer, Frauen und Kinder, die in der Folge des Krieges und wegen der Teilung Deutschlands und Europas ihr Leben aushauchten.

Trauer überkommt uns mit den Familien und Freunden wegen der Opfer des Terrorismus und der Bürgerkriege unserer Tage, der Flugzeug- und Schiffsentführungen. Betroffenheit erfaßt uns, wenn wir die gigantischen Zahlen der Kriegstoten hören.

Doch tiefer sind wir betroffen, wenn wir Einzelschicksale bedenken. Wer ermißt das Leid der Eltern, deren Kind fortgehen mußte, um eine ihm unbekannte Stadt zu verteidigen und nicht mehr wiederkehrte? Wer ermißt das Leid der Mutter, die auf der Flucht die eiskalte Milch in ihrem Munde für ihren Säugling erwärmte und dann bemerken muß, daß ihr Kind in ihren Armen erfror? Wer kennt das Leid der Menschen, deren Familien auseinandergerissen wurden durch Verschleppung und Vertreibung?

Wer spürt heute - über 40 Jahre danach - noch die Angst, das Grauen und die Einsamkeit, wer hört noch die Schreie, das Beten und Wimmern, wer riecht noch den Staub, das Blut und den Feuerqualm, wer sieht noch die zitternden Kinder, zerfetzten Leiber und schwarzen Ruinen, selbst wenn er Betroffene darüber reden hört oder nüchterne Berichte liest?

»Während sonst die feindlichen Bomber meist in der West-Ost-Richtung Daun überflogen, erschien am 19. Juli 1944 plötzlich um 9.40 Uhr ein Verband von etwa 15 Bombern von Süden her. Über dem Dauner Sprudel wurde aus dem vordersten Flugzeug ein heller Streifen sichtbar. Sogleich vernahm die Bevölkerung das furchtbare Rauschen und nervenzerreißende Knattern fallender Bomben. Einen Augenblick später wußte man: der Angriff hatte der Stadtmitte gegolten; sie war sofort in eine undurchdringliche Staubwolke von etwa 120 Meter Höhe gehüllt und es stiegen Brandwolken auf. Grauenvoll waren die Verwüstungen, und schrecklich sahen die armen Menschen aus, die bei diesem furchtbaren Angriff den Tod gefunden oder Verletzungen erlitten hatten. Beim Bergen der Toten und Verwundeten spielten sich fürchterliche Szenen ab.

Am Abend stand fest: 7 Männer, 28 Frauen und 26 Kinder unter 14 Jahren hatten den Tod gefunden; 209 Personen waren verletzt worden. Am 23. Dezember 1944 um 5 Uhr früh trafen drei Bomben die Alte Darscheider Straße. Dabei ließen 9 Einwohner und 4 Soldaten ihr Leben. Gegen 14 Uhr am gleichen Tag fielen 6 Bomben und töteten 10 Einwohner und zwei Soldaten. Eine Mutter mit ihren zwei Kindern, die unter Trümmern ihres brennenden Hauses verschüttet waren und flehentlich um Hilfe riefen, konnten nicht mehr gerettet werden. Bekümmert kehrten die Menschen in der Dämmerung dieses Unglückstages aus den umliegenden froststarrenden Wäldern in ihre Behausungen zurück«.

»Von allen Orten des Kreises Daun ist Gerol-stein am härtesten durch Kriegsschäden betroffen. Am 25. Dezember 1944 wurde der Ort mit Tausenden von Brandbomben belegt. Von Tag zu Tag stieg die Zahl der Obdachlosen. Die Bewohner flüchteten in die umliegenden Wälder und Dörfer. Viele hielten sich in Höhlen oder Bunkern auf. Gegen Abend kehrten sie zurück und was sie von Gerolstein noch vorfanden, war ein großes Trümmerfeld. 70 Prozent aller Gebäude waren zerstört«.

»Vor den Bombenangriffen und den ständigen Truppenbewegungen verzogen sich die meisten Hillesheimer Familien in die Bunker und in die Eishöhle. Frühmorgens holte man sich eilig Vorrat aus den Häusern, um dem Beschuß der Tiefflieger zu entgehen. Den Zufahrtsstraßen galt ein Nachtangriff mit schwersten Bomben am 24. 2.1945; er kostete 40 Soldaten auf dem Marsch das Leben«. »In Jünkerath kamen 37 Personen ums Leben, etwa 40 wurden verletzt. Durch Bomben wurden die evangelische Kirche und sämtliche Brücken über die Kyll zerstört«.

Durch Kriegseinwirkungen verloren im damaligen Kreis Daun im Ersten Weltkrieg 1 208 Menschen und im Zweiten 2 885 Menschen ihr Leben.

Volkstrauertag! Man steht zwischen den Gräbern, betrachtet die Grabsteine und liest: Hier ruht der 18jährige Harald Kalitta, dort der 25jährige Dr. Georg Huber, der so stolz auf seinen Doktortitel war; da ist das Grab des 17jährigen Albert Weiss, um den irgendwo eine Mutter weint; hier ruht der Soldat Heinz Rother, ein Kind noch, der zwei Tage vor seinem 17. Geburtstag starb. Volkstrauertag. Da werden Stimmen laut, die fordern: »Schluß mit der Vergangenheit! Hört auf darüber zu reden, zu schreiben, Filme zu zeigen. Wir leben doch und Live ist life! Laßt die Toten den Toten!« Wie aber soll ich, sollen wir, die Nachkriegsgeneration, die Gegenwart und Zukunft bewältigen und meistern, wenn wir die Vergangenheit verdrängen und sie nicht wahrhaben wollen?

Wir sind aufgefordert, das Zeitgeschehen mit offenen Augen und offenem Herzen aufzunehmen. Bilder und Nachrichten aus dem Libanon und aus Afghanistan, aus Iran und Irak, aus Asien, Afrika und Südamerika, sie alle sprechen von Leiden und zeigen das Elend, das der Krieg den Menschen bringt. Vergessen wir nicht, auch wenn wir nun vierzig Jahre in Frieden leben durften, daß dennoch nach dem Zweiten Weltkriege in über 140 Aufständen, Revolutionen, Bürger- und Völkerkriegen über 30 Millionen (!) Menschen ihr Leben opferten. Gewiß: tot ist tot! Ist es sicher? Ich bin mir nicht sicher, da ich glaube, daß der Tote, solange ich an ihn denke, noch »lebt«; in meinen Gedanken, in der Erinnerung, in meinem Gefühl, in mir. Er ist ein Teil von mir und meiner Geschichte. Darum möchte ich im Gedenken bei ihm sein, bei all den Millionen. Und wenn an diese, auch an die Lebenden, an deren Not und Leiden gedacht wird, dann empfinden wir all das Leid als unser gemeinsames Leid. Volkstrauertag, ein Tag des Sich-Erinnerns, ein Tag des Mitfühlens, ein Tag der Trauer. Aus Trauer erwächst die Sehnsucht, der Wunsch nach Versöhnung und Frieden, erwächst Friedenswille.

Man schaut nach Genf, schaut auf die Mächtigen und Allgewaltigen. Man erwartet von Verhandlungen einen weiteren Schritt auf dem Wege zur Sicherung des Friedens in Europa und der ganzen Welt. Doch Krieg oder Frieden ist nicht allein Sache von Politikern. Suchen wir kein Alibi, denn wir sind alle gefordert, unseren Einsatz für den Frieden zu erbringen. Wir können - wir müssen! - zur Erhaltung des Friedens beitragen durch Toleranz und Geduld im Miteinander, durch Gesprächsbereitschaft und Versuche, einander zu verstehen, durch Abbau von Mißtrauen und Aufbau von Versöhnlichkeit. Laßt uns Frieden stiften, wo immer es uns möglich ist. Beten wir um Frieden - aus Dankbarkeit für vierzig Jahre Frieden, seien wir dazu bereit aus dem Verantwortungsgefühl für zukünftige Generationen. Dann wird der Volkstrauertag zu einem Volksfriedenstag!

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