Rückblick in die Zukunft

Judith Krämer, Mehren

 

Vor einigen Tagen fiel ihr ihr altes Tagebuch in die Hände. Sie hatte schon lange nichts mehr hineingeschrieben. Damals hatte sie es mit alten Kinderbüchern in eine Kiste gepackt, wo sie es dann vergessen hatte. Nur durch Zufall hatte sie es jetzt wiedergefunden. Sie nahm das Buch, setzte sich in einen Sessel und schlug die erste Seite auf. Mit sauberer, fast gemalter Schrift stand dort zu lesen:

Wir ziehen in die Eifel. Ich habe es direkt meinen Freundinnen erzählt. Die waren ganz aus dem Häuschen. Bald schon ist es soweit. Bis dahin gibt es aber noch eine Menge zu tun, einpacken und so. Oma und Opa wohnen auch in der Eifel. Ich fahre gerne dorthin. Da gibt es in der Nähe eine Burg mit ganz vielen Vögeln und anderen Tieren. Ich bin sogar einmal mit Papa auf den Turm gestiegen, und da konnten wir ganz weit gucken. Kurz bei der Burg ist auch ein ganz großer Spielplatz, da bin ich gerne.

Heute morgen sind wir losgefahren. Zuerst war ich etwas traurig, weil ich meine Freundinnen für lange Zeit nicht sehen werde. Jetzt bin ich aber ganz gespannt, wie es da sein wird, wo wir von jetzt ab wohnen werden.

Nun sind wir schon einen ganzen Tag hier in der Eifel. Es gefällt mir hier sehr gut. Wir wohnen auf einem Berg und können vom Wohnzimmerfenster aus über das Dorf schauen. Mein Bruder und ich haben mal die Gegend erkundet. Nicht weit weg von unserer Straße beginnt der Wald. So einen großen Wald gab es bei uns zuhause nicht. Im ganzen sieht es hier anders aus als zuhause. Hier sind viel mehr Wälder, und die sind auch viel größer. Und vor allem gibt es hier Berge. Bei uns zuhause hat Papa immer gesagt, da kann man schon mittwochs sehen, wer sonntags zu Besuch kommt.

Heute war mein erster Schultag hier. Zuerst hatte ich etwas Angst vor den vielen fremden Kindern, aber die waren ganz nett zu mir. In der Pause haben wir fangen gespielt. Und dann hat die Lehrerin uns erzählt, wie die Maare entstanden sind, das war toll. Ich war mit Mama und Papa auch schon einmal an so einem Maar. Da sind wir durch Daun gefahren. In Daun ist eine große, schwarze Brücke, wo die roten Züge rüberfahren. Im Urlaub bin ich auch einmal mit so einem Zug gefahren.

Heute bin ich das erste Mal von der Schule aus ganz allein nach Hause gegangen. In der Schule lernen wir jetzt ein Lied auf «Platt«. Ich habe gesagt, daß ich das nicht kann, aber die Lehrerin hat gemeint, das wäre nicht schlimm, ich würde das bestimmt schnell lernen.

Heute sind wir mit der Schulklasse durch den Wald zu einem Trees gewandert, das ist ein Brunnen.

Wir haben jetzt Herbstferien. Da fahre ich immer gerne mit dem Fahrrad den Berg runter. Mit den anderen Kindern haben wir uns im Wald ein ganz tolles Versteck gebaut. Das kann man, wenn man nicht genau weiß, wo es ist, so gar nicht sehen. Ich kann jetzt auch schon ganz schnell auf Bäume rauf klettern, nur runter geht es langsamer. Wir haben auch versucht, in einem Weiher Fische zu fangen, aber keiner hat angebissen.

Am Montag ist der erste Schnee gefallen. Es hat ganz stark geschneit, ich habe noch nie so viel Schnee auf einmal gesehen. Viele Autos sind den Berg gar nicht hochgekommen, die haben wir dann angeschoben. Weil Ferien sind, können wir den ganzen Tag Schlitten fahren und Iglus bauen. Wir haben schon fünf Stück vor dem Haus stehen. Das größte haben wir richtig gemütlich eingerichtet. Ich glaube, es gibt nichts Schöneres, als Iglus bauen.

Heute sind mein Bruder und ich im Fastnachtszug als Blumen mitgegangen. Im Fastnachtszug waren ganz tolle, riesige Wagen drin. Am Donnerstag waren wir singen, »eierheschen« oder so nennen die das hier.

Heute hat die Lehrerin einiges von der Geschichte unseres Dorfes erzählt, daß es einmal fast ganz abgebrannt ist und so. Sie hat uns auch erzählt, daß es hier irgendwo ein Dorf gegeben hat, wo alle Legte nach Amerika ausgewandert sind. Mein Bruder und ich haben eine Zeitung gegründet, da haben wir das alles aufgeschrieben. Eine Zeitung haben wir Mama und Papa verkauft, was wir mit den anderen machen werden, wissen wir noch nicht.

Wir haben wieder Ferien. Heute morgen sind wir ganz früh aufgestanden und ganz weit durch den Wald gewandert. Wir haben sogar ein richtiges Reh gesehen und einen Hasen und ein Eichhörnchen.

»Und heute?« dachte sie. Sie war mit der Zeit auch nicht jünger geworden. Die Erinnerung an ihre Kinderzeit war verblaßt, nun wurde sie wieder lebendig. Plötzlich hatte sie wieder alles lebhaft vor Augen, als wäre es erst gestern geschehen. Sie sah sich und ihren Bruder voller Eifer und Begeisterung Iglus bauen, Schlittenfahren, auf Bäume klettern, auf der Wiese herumtollen, schreiend, lachend. Dann schaute sie aus dem Fenster, blickte auf düstere Straßen, graue Häuserfassaden, sah in der Ferne den Rauch aus den großen Schornsteinen der Fabriken emporsteigen. Sie aber dachte nur: »Es ist noch nicht zu spät!«

 

Ein Knoten im Schuhband

ist nur mit Geduld

aufzulösen.

Joachim Ringelnatz