Unter der blühenden Linde

Volkskundliche Betrachtungen über einen beliebten Baum

Alois Mayer, Daun-Pützborn

 

In meiner Heimatstadt, und damit unterscheidet sie sich wahrscheinlich kaum von anderen Städten, trägt eine Straße den wohlklingenden Namen eines stolzen Baumes: Lindenstraße. Doch wohin das Auge auch schaut, es entdeckt in dieser Straße nirgends einen Lindenbaum, sieht man ab von einem stilisierten Baumgemälde an einem Privathause.

Ich weiß mich zu erinnern, daß Linden in meiner Jugendzeit ganze Alleen säumten. Mit ihren dichten Kronen, ihrem zarten Laub und den duftenden Blüten erfreuten sie jedes Menschen Herz. Doch dieser edle Baum scheint auszu-sterben. Bei unseren Vorfahren jedoch stand er in hohem Ansehen. Durch ihren schnellen Wuchs, ihr hohes Alter von weit über 1000 Jahren, durch ihre enorme Höhe (über 30 Meter) war die Linde imponierend. Sie wurde verehrt, besungen, in menschliches Leben und Leiden einbezogen und liebevoll mit »Frau« oder »Gevatterin Linde« angeredet. Sie stand im engen Verhältnis zum menschlichen Lebenslauf. Viele Sitten und Gebräuche ranken sich um die Linde oder konnten nur durch sie vollzogen werden. Mittelalterliche Rechtssprüche und Weisungen »Gegeben unter der Linde« oder »Gewiesen an der hohen Linde vor der Kirche« machen ihre Bedeutung und Wertschätzung klar.

Die Linde — Baum der Liebe

Nach dem Glauben unserer Vorfahren wohnten in der Lindenkrone glückbringende Gottheiten. Die Linde galt als der heilige Baum der Göttin Freija, die zuständig war für Schönheit und Liebe, für Ehe und Familie, für Glück und Zufriedenheit, für Fruchtbarkeit und Frühlingserwachen. Brautleute wurden unter der Linde »zusammengegeben«. Mit dreimaligem Umgang um den Stamm bezeugten sie der Festversammlung, daß ihre «Ehe nun gültig sei«. Tanz, Gesang und Geselligkeit unter und um die Linde sind bis in die Neuzeit verbürgt. In Sagen und Märchen, in Dichtung und Volkslied ist der Lindenbaum als Symbol der Liebe verehrt und gelobt worden. Voll Heimweh reimt der Heidedichter Hermann Löns (1866-1914):

»Ich weiß einen Lindenbaum stehen

in einem tiefen Tal;

den möcht ich wohl sehen

nur noch ein einzig Mal.

Ich weiß zwei blaue Augen

und einen Mund, so frisch und rot. «

In verschiedenen Orten der Eitel wurden im Mai oder zur Kirmes die Mädchen »versteigert«. Unter der Dorf linde oder vor der Kirchentür bot ein nur dafür gewählter Schultheiß die Dorfmädchen zum Ansteigern aus. Die Linde wurde somit auch zum Symbol der Treue und jugendlicher Unschuld. War ein Mädchen im Laufe des Jahres ihrem »Freier oder Ansteige-rer« untreu oder erwies es sich, daß sie nicht mehr unberührt war, dann wurde »die Linde gescheuert«, d.h. der Rasen oder das Pflaster um den Baum wurden aufgebrochen und erneuert.

Auch Ludwig Uhland (1787-1862) weist warnend auf das Sinnbild der Linde für Jungfräulichkeit hin:

»Und wenn die Lind' ihr Laub verliert,

behält sie nur die Äste.

Daran gedenkt, ihr Mägdlein jung,

und haltet euer Kränzlein feste. «

Schon in den germanischen Heldensagen begegnet uns die Linde. Sie war Zeuge von Ruhm und heimtückischem Mord. So erfahren wir, daß König Ortnit unter einer Linde seine wunderschöne Rüstung von Zwerg Alberich geschenkt bekam. — Siegfried tötete den gefährlichen Drachen unter einer Linde; ein Lindenblatt machte Siegfried, als er im Blute des Drachens badete, an der Schulter verwundbar und Hagen erstach Siegfried an der Quelle unter einer Linde.

Dicke Linde in Horperath, etwa 400 Jahre alt; aus NaturdenkMale des Kreises Daun S. 309.

Die Linde — Baum der Freude

Gepflanzt wurde die Linde an Straßen, vor der Kirche, an Marktplätzen und Gerichtsstätten, auf Kirchhöfen, an Brunnen, Burgen und Schlössern, an Kreuzungen, Flurkreuzen und vor Wohnhäusern. Studenten saßen bei der »Lindenwirtin« im Schatten mächtiger Lindenbäume, träumten, unterhielten sich und feierten. Jung und alt versammelten sich zu gemeinsamem Spiel und Tanz, zur Gemütlichkeit und verdienter Ruhe unter ihrem Blätterdach. J.W. von Goethe (1749-1832) beschreibt im »Faust« ein solches Dorffest:

»Der Schäfer putzte sich zum Tanz

mit bunter Jacke, Band und Kranz;

Schmuck war er angezogen.

Schon um die Linde war es voll

und alles tanzte schon wie toll.

Juchhe! Juchhe!

Juchheisa! Heisa! He!

So ging der Fidelbogen...

Und von der Linde scholl es weit: Juchhe!«

In der Oper »Tannhäuser« von Richard Wagner (1813-1883) singt man: »Nun wohlauf zu der Linden, ihr Kinder, ihr jungen! / Da wird in Bekränzung zum Tanze gesungen! / Heia, Sommerwonne, wer mag uns dich mißgönnen?«

In der Eifel wurde der Kirmestanz sonntags nachmittags nach der Vesper unter der hohen Linde vor der Kirche eröffnet. Die Dorflinde war das Gemeindezentrum vergangener Zeiten. Hier begegnete man sich, um dörfliche oder private Gegebenheiten zu besprechen und zu beraten, hier wurde Gericht gehalten, hier trafen sich Liebende oder man träumte, wie Franz Schubert (1797-1828):

»Am Brunnen vor dem Tore,

da steht ein Lindenbaum,

ich träumt in seinem Schatten

so manchen süßen Traum. «

oder Walter von der Vogelweide (1170-1230):

»Unter der Linden bei der Heide

mit meinem Trauten ich niedersaß.

Da könnt ihr finden, wie wir beide

die Blumen brachen und das Gras.

Vor dem Wald in einem Tal,

tandaradei, süß sang die Nachtigall. «

Friedrich Hebbel (1813-1863) besingt den Lindenbaum, wobei er in gekonntem Wortspiel mit nur fünf Worten zwölf Reime bildet:

»Ich schritt vorbei an manchem Baum

im Spiel der Morgenwinde,

ich schwankte hin in manchen Traum

und sah nicht, wie der Blinde.

Doch plötzlich fuhr ich auf im Traum

und rief: »O Gott, wie linde!«

Ich fand mich unterm Lindenbaum,

er hauchte Duft im Winde.

Ich aber sprach: »Du süßer Baum;

dich grüßt wohl auch der Blinde,

der deinen Namen selbst im Traum

noch nie qehört, als Linde.«

Doch Klatsch, Tratsch und üble Nachrede fürchtete man auch. Davon schreibt Heinrich Heine (1797-1856) in seinem Gedicht »Heimweh«:

»Blamier mich nicht, mein schönes Kind,

und grüß mich nicht unter den Linden;

wenn wir nachher zu Hause sind,

wird sich schon alles finden. «

Die Linde — Baum des Volkes

Früher wurde die Linde mehr gebraucht und genutzt als heute. Das weiche Holz war bestens zum Schnitzen geeignet, die Lindenkohle zum Zeichnen. Aus dem Rindenbast wurden Decken, Körbchen und sonstige Flechtarbeiten

hergestellt. Die Blüten halten eine bedeutende Honigtracht für Bienen bereit und getrocknet sind sie Grundlage für wohlschmeckenden und heilenden Tee. Ältere Leute behaupten, daß man unter dem Baum leichter und besser atmen könne. Linden vor Häuser gepflanzt oder deren Zweige auf Dächer gelegt sollen vor Blitz, Feuer und Krankheiten schützen. Lindenasche, auf Felder gestreut, schützt vor Schädlingen, vor des Hauses Schwelle vor Hexen, Dieben und Zauberern. Eine bäuerliche Wetterregel weist auf gute Beobachtung hin: »Hat die Linde starken Duft, dann liegt Regen in der Luft!«

Friedrich Klopstock (1724-1803) beschreibt die Linde als Symbol jenseitiger Ruhe und ewigen Friedens:

»Lang sah ich, Meta, schon dein Grab

und deine Linde wehn;

die Linde wehet einst auch mir,

streut ihre Blut' auch mir.«

Ein schönes Beispiel für die enge Beziehung zwischen weltlicher und geistlicher Ideen- und Bilderwelt in der mittelalterlichen Epoche bietet das Weihnachtslied: »Es stot ein lind im him-melrich, do blüent alle este./ Do schrient alle angel glich, daz Jesus si der beste.«

Dieses Lied ging hervor aus der Volksballade »Es steht ein >l_ind< in jenem Tal«, die etwa aus dem 14. Jhd. stammt und unter dem Titel »Die Liebesprobe« bekannt ist. Als geistliche Umdichtung wurde es zum Maria Verkündigungslied.

Die Linde ist ein Baum des Volkes, gemütbildend und aufs innigste mit dem glaubenden Menschen verbunden, wie dies treffend in dem heiteren Gedicht »Die Hof linde« von A.K.T. Tielo aufgezeigt wird:

»Die kleine, krüpplige Linde

auf unserm Hof von Stein

hätscheln Herr und Gesinde

und der Großstadtsonnenschein.

Frühmorgens schon turnen die Spatzen

durch ihren grünen Flaum

und erhellen mit frohen Schwatzen

den grämlichen Häusersaum.

Und mittags trippeln die Kleinen

in ihren Schatten herbei

und hüpfen mit hurtigen Beinen

Ringel und Ringelreih.

Und öffnen im Dämmergrauen

sich alle Fenster weit,

so summen Mädchen und Frauen

in das dunkelnde Blätterkleid.

Dann streift auf der Dächerreihe

ein Falter das Bäumchen sacht,

wie ein Gruß von der fern

und leise rauschenden Wäldernacht.

Und in schläfrig atmendem Winde

ein Stern durch die Wipfel gleißt.

Die kleine, krüpplige Linde

ist unser guter Geist. «

Bereits zu einem beliebten Volkslied wurde die Schöpfung des österreichischen Operettenkomponisten Robert Stolz (1880-1975), der voller Liebe und inniger Sehnsucht dichtete:

» Vor meinem Vaterhaus steht eine Linde.

Vor meinem Vaterhaus steht eine Bank,

und wenn ich sie einst wiederfinde,

dann bleib ich dort mein Leben lang.

Dann wird die Linde wieder rauschen

ihr liebes, altes Heimatlied.

Mein ganzes Herz will ihr dann lauschen,

das oft in Träumen heimwärts zieht;

mein ganzes Herz will ihr dann lauschen,

wer weiß, wer weiß, wann das geschieht?

In dieser großen fremden Stadt,

in diesem Meer aus Stein,

da grüßt dich kaum ein Blütenblatt

mit süß vertrautem Schein. «

Die Linde — Opfer der Zeit

Im Kreise Daun wurden ältere Bäume in den letzten Jahren unter Natur-Denkmalschutz gestellt. Der geschützte Lindenbestand weist die erschreckend geringe Zahl von nur etwas über 100 Bäumen auf: Daun 3, Deudesfeld 3, Dockweiler 2, Gillenfeld 2, Mehren 3, Meisburg 2, Strohn 2, Lissingen 1, Oos 1, Roth 1, Kalen-born 2, Berndorf 14, Hillesheim 30 (Viehmarkt und Allee), Stroheich 1, Niederehe 1, Zilsdorf 1, Mirbach 4, Berenbach 1 (Kaiserlinde), Horpe-rath 1, Glaadt 1.

Schade, daß diese Bäume modernen Straßenplanungen und kaltem Beton weichen müssen; schade, daß dieser Baum aus der einstigen menschlichen Naturverbundenheit verdrängt wird; schade, daß dieser Baum, Erbgut unserer Vorfahren, seinen anheimelnden Wert verlor; schade auch, daß materielles Denken Baum und Strauch, Natur und Kreatur zu mißachten droht.

Versuchen wir wieder bewußter mit der Linde zu leben; versuchen wir, Kraft und Überlebensmut aus und mit der Natur zu gewinnen, ähnlich wie es W. Wolf und W. Kollo in »Drunter und drüber« beschwören: »So lang noch »Untern Linden« die alten Bäume blühn, / kann nichts uns überwinden, Berlin bleibt doch Berlin!« Versuchen wir aus der Schöpfung Hoffnung und Stärke zu erlangen, dann schenkt sie uns Erkenntnis und »Trost«, wie Ina Seidel (1885-1974) dichtet: »Unsterblich duften die Linden — / Was bangst du nur? / Du wirst vergehn, und deiner Füße Spur/ wird bald kein Auge mehr im Staube finden. / Doch blau und leuchtend wird der Sommer stehn /und wird mit seinem süßen Atemwehn / gelind die arme Menschenbrust entbinden. / Wo kommst du her? Wie lang bist du noch hier?/ Was liegt an dir?/ Unsterblich duften die Linden.«