Über den Gartenzaun

Liselotte Dohm, Gerolstein

 

Mein Garten liegt am Fuß einer verfallenen Burg. Aus der Grafenzeit stammt der Name der Flur: Bungert = Baumgarten. Meine Mitbürger und ich sprechen moselfränkisch, und wenn wir uns auch nicht mehr mit »Jott helf Ech« grüssen und »Jott dank Ech« antworten, wie ich's noch von meinem Vater hörte, so sind wir in unseren Gärten und Obstwiesen, die wir Pesch nennen, doch eine große Sippe und lassen unseren gegenseitigen Haß und Ärger, den Geldbeutel und die gesellschaftlichen Unterschiede, lassen Überheblichkeit und Neid in unseren vier Wänden. Draußen regieren nur unsere gemeinsamen Sorgen: das Wetter, die Saat, der Boden, der »ludrige Katzenschwanz« (Schachtelhalm) und die verfluchten Schnekken und Wühlmäuse. Zaungespräche, in der ganzen Welt die gleichen, nur örtlich variiert. Neben meinem Garten steht ein Haus, das kurz nach dem Krieg erbaut wurde. Die Erbauerin, Kriegerwitwe, ist vor einiger Zeit gestorben. Während ich Scholle um Scholle meiner lehmigen Erde mit dem Spaten umwerfe, sehe ich eine alte Frau aus dem Haus kommen. Sie trägt ein Kopftuch, nichts Besonderes auf dem Lande - aber irgendwie ist es anders, in der Farbe meine ich, und auch anders geknotet. Es fällt mir auf. Das Schlimme aber ist: Wir kennen uns nicht! Das ist noch nicht dagewesen. Und weil wir uns nicht kennen, sagen wir auch nichts. Das ist mehr als unbehaglich, ist unmöglich. Man kennt sich doch bis zu den Großvätern, wir sind eine Sippe, ob wir Freunde sind oder uns nicht leiden mögen. Ich bin in meiner Arbeit gestört, der ganze Bungert ist in Unordnung geraten. Die Frau geht langsam durch den verwahrlosten Garten ins Haus zurück. Zerschlagen und früher als sonst gehe ich nach Hause.

Am nächsten Tag grabe ich weiter - und warte auf die Frau. Früher war »Marie« da, kaum daß ich den Spaten in der Hand hielt, und es war alles in Ordnung; derb, urwüchsig, nicht salonfähig, ebensowenig wie Lehm und Mist - eben so, wie wir sind in unseren Gärten. Nun ist Marie tot, und eine fremde Frau wohnt in ihrem Haus.

Verdrossen stoße ich den Spaten in die Erde. Noch nie hat sich der verdammte Bungert so schlecht gegraben! Mir tut das Kreuz weh. Wie mir meine alte Gartennachbarin fehlt!

Es beginnt zu nieseln. Da kommt die alte Frau, sie hat Wäsche auf der Leine. Ich hebe nur flüchtig den Kopf, wir kennen uns ja nicht. . . »Guten Tag auch!« höre ich. Bei diesem Gruß habe ich eine Vision: Als knapp Neunzehnjähriger sah ich nach überstandener Frühjahrsoffensive 1917 bei Arras die ersten Schwalben. »Les hirondelles de ma patrie!«, deklamierte ich spontan alle Strophen. Vor einem Jahr hatte ich noch eine Vier bekommen, weil ich nicht über die erste hinausgekommen war.

 Mit nassen Augen (heut darf ich's sagen) sah ich den zwitschernden Schwalben nach, die mich wie grüßend umkreisten. So ähnlich, ohne nasse Augen (die hat mir das Leben abgewöhnt), war's mir beim Gruß der Alten. Nun klafft doch kein gähnender Abgrund neben meinem Zaun. Der Gruß schlägt die Brücke, so wie der Gruß der Schwalben von La Bassee dem Pennälersoldaten die Brücke zur Heimat baute.

Der Lehm war plötzlich nicht mehr so zäh; ich pfiff bei meiner Arbeit, und als es stärker nieselte, fand ich, daß ich gradezu auf Regen gewartet hatte.

Als ich am nächsten Tag kam, war die alte Frau schon da. Diesmal grüßte ich zuerst. Sie nickte freundlich und kam an den Zaun. Sie sprach zwar nicht unsere Mundart, aber keine Wiener Operette, kein Moser, keine Schrammein haben mir so gefallen wie das unverfälschte Östreichisch, in dem sie sich nun mit mir unterhielt. Ich vergaß das Graben, das Säen, die vorgeschrittene Jahreszeit und alle Eile.

Seit einer Woche sprechen wir täglich über den Zaun. Wir sind keine Fremden mehr, der Ab-grund neben mir hat sich festgeschlossen. Der Bungert ist wieder, wie er war, zwar schwerer Lehmboden, aber Garten- und Obstland.

Aus Znaim ist Frau Polenda, und zu meiner bukolischen Gartenfreude kommt die phonische »derzue«. Aus dem »Gurkenländchen«, das an der Thaja liegt, stammt meine Nachbarin, wo sie das Kopftuch anders binden und der Wein wächst. Und so zähen Lehm haben sie auch nicht in Znaim. Aber die Bohnen legen sie genauso wie wir und sagen: sie müssen die Glocken läuten hören.