Sagen und Märchen der Heimat

Voraus eine Deutung ihres geschichtlichen Kerns

Hans Mühlhaus, Darscheid

 

Sagen sind Märchen für Erwachsene. Sie entstanden im Zusammenleben der Menschen und stammen aus alten Zeiten, wo gute Erzähler noch mehr zu Wort kamen. Im Gegensatz zu den Märchen sind Sagen ortsgebunden und haben einen geschichtlichen Kern. Diesen meist nüchternen Mittelpunkt, aus dem die Sage entstanden ist, hat die Phantasie mit »sagenhaftem« Rankwerk garniert, in dem Gott und Teufel, redende Tiere, Irrlichter, Gespenster und Hexen eine Rolle spielten. Das Unbegreifliche ist begleitende Poesie, die keine Langeweile aufkommen läßt und den Glauben an die Sage nicht stört, weil das Kernstück keine Lüge ist. So wird die Sage zur Form, wie das Volk die Geschichte seiner Heimat schreibt. — Die Gebrüder Grimm schreiben über das Wesen und die Tugend der Volkssage, daß sie »Angst und Warnung vor dem Bösen und Freude an dem Guten mit gleichen Händen austeilt.« (Die deutschen Sagen der Brüder Grimm, S. 19)

 

Die Sage »Der Wundervogel von Hilgerath« beginnt mit Streit. Die sieben Dörfer der Struth konnten sich nicht bei der Wahl des Standortes für die zu bauende Kirche einigen. Es ist schon schwer, drei Bauern unter einen Hut zu bringen, aber die Bewohner von sieben Bauerndörfern zu einer Meinung zu bewegen, schien menschlich fast unmöglich. Auf einmal gab es etwas, was es vorher nie gegeben hatte: Sie hörten eine Stimme, ein Ruf aus dem Walde. Ob es ein Mythos war, ein uralter Götterlaut? Sie hörten und nahmen an; denn großes Werk gedeiht nur in Einigkeit! In der Bergkirche Hilgerath hat St. Hubertus, der Ardennenheilige, das Patrozinium übernommen. Von ihm erzählt die Sage, er habe als wilder Jäger am heiligen Karfreitag ganz unerwartet den weißen Hirsch gesehen, der ihm ein strahlendes Kreuz entgegenhielt. Hubertus sah und nahm an. Die Gnade Gottes hatte ihn ergriffen.

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Die Sage »Vom Hörscheider Teufelchen« ist ein eindringlicher Appell: Seid barmherzig!

Schon ein einziges böses Wort kann teuflisches Unheil auslösen. Wie schwer ist es, das Böse wieder gut zu machen! Wie schmerzlich ist es, die Zeit der Bewährung leichtsinnig zu verpassen, zumal sie nicht wiederholt werden kann. All das erzählt die Sage in volkstümlicher Weise. In Hörscheid steht in der Kapelle die verehrungswürdige Statue der hl. Brigida, der Flamme Irlands. Ihr Vater, ein hochgestellter Fürst, bot seiner hübschen Tochter alle Annehmlichkeiten der Welt an. Brigida verzichtete, sie wollte dienen als Klosterfrau; denn sie hatte die Barmherzigkeit zu ihrer Tugend erwählt.

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Man sieht: der Sagenbaum hat viele Äste. Bei uns in der Eifel fehlen manchen Ästen da und dort noch blühende Zweige. Sie zu ergänzen, sind wir alle aufgerufen. Dabei muß es ein oberstes Gesetz geben, immer bei der Wahrheit, der treuen Wiedergabe zu bleiben. Wenn dazu die Sage in der mundartlichen Fassung aufgeschrieben ist, so darf man hoffen, daß sie original (echt) und originell (einzigartig) erhalten bleibt.