Kultur und Volkskunst

Geglückter Rollentausch

Theaterarbeit am Thomas-Morus-Gymnasium Daun

Wolfgang Hallet, Daun/Bitburg

 

Wer hätte nicht schon einmal - und wenn nur heimlich und leise - mit dem »Wenn ich einmal reich war'« den Traum des armen Milchmanns Tevje geträumt? Wer möchte nicht einmal, wie Prinz Leonce, einfach eine abgestandene Welt hinter sich lassen und sich auf die Reise machen, um endlich die Ideale zu finden, die man doch eigentlich nur träumen darf? Wer würde sich nicht gerne einmal, wie Tom und Tina, von einem Zauberer in jene phantastische Welt entführen lassen, in der Märchenfiguren erlebte Wirklichkeit sind?

Es sind diese geträumten Welten, die einen großen Teil der Faszination des Theaters erklären. Wo sonst als auf der Bühne können Menschen in einer modellhaft gedachten anderen Wirklichkeit sozusagen versuchsweise miteinander agieren? Im Spiel auf der Bühne darf man sein Alltagskostüm ablegen und mit einem anderen, phantastischen (oder noch alltäglicheren?) vertauschen; man darf sein wahres Gesicht hinter einem geschminkten, einer Maske, verbergen (oder zeigen?); man darf seine eigene Rolle mit der des Bösewichtes oder der guten Fee vertauschen, eine fremde Identität annehmen und gerade dadurch die eigene erarbeiten und finden.

Der eingangs erwähnte Milchmann Tevje ist zuhause in Anatevka, dem kleinen jüdischen Dorf in Rußland, das dem weltberühmten Musical seinen Titel gab und das Günter Jung im März 1986 am Thomas-Morus-Gymnasium als Ergebnis einer schier unglaublichen Energieleistung mit seiner Arbeitsgemeinschaft Musiktheater auf die Bühne brachte. Ein Ensemble von über 150 Mitwirkenden bot alles auf, was eine Schule an musizierenden, gesanglichen, darstellerischen, (bühnen-)bildnerischen und technischen Talenten überhaupt zur Verfügung hat. In Günter Jungs Musiktheaterarbeit ist »Anatevka« wohl als Höhepunkt anzusehen, wenngleich er bereits früher mit Carl Orffs Weihnachtsgeschichte in Eifeler Mundart (Dezember 1980), der Märchenoper »Die zertanzten Schuhe« (Dezember 1981) und Carl Orffs Weihnachtsspiel »Ludus de nato infante« (Dezember 1983), das Schüler eigens aus der bayrischen in die Eifeler Mundart übertragen hatten, die vielfältigen Möglichkeiten des Musiktheaters an der Schule unter Beweis gestellt hatte.

Prinz Leonce gab zusammen mit Prinzessin Lena dem Lustspiel aus dem Jahre 1836 den Namen, in dem Georg Büchner den heruntergekommenen Absolutismus und die Leere und Langeweile an den Höfen der deutschen Kleinstaaten des 19. Jahrhunderts verspottet. Die Aufführung durch die Theater-AG (Premiere im November 1985) verdeutlichte eine überraschende Nähe zur Gegenwart und hielt so manchem Staatsmann einen Spiegel vor. Es war dies die dritte Inszenierung der Theater-AG unter der Leitung des Autors dieser Rückschau. Vorangegangen waren eine szenische Darstellung von Antoine des Saint-Exuperys »Der kleine Prinz« (Dezember 1982) und Max Frischs »Biedermann und die Brandstifter«, eine »brandaktuelle« Parabel vom Bürger Biedermann, unterdessen Dach sich das Unheil in Gestalt der Brandstifter einnistet, der sich aber als zu feige, zu bequem, zu ignorant erweist, um die Katastrophe zu verhindern.

Schlußszene aus »Leonce und Lena«; Johannes Utters als König Peter, Jakob Scheid als Valerio

Eine Szene aus »Leonce und Lena«: Silke Blonzen als Lena und Wolfgang Gippert als Leonce

Auch die Inszenierung klassischer Textvorlagen hat Tradition am Thomas-Morus-Gymnasium: Bereits im April 1965 stellte Hans Eisenhauer, heute stellvertretender Leiter der Schule, zur Eröffnung der Aula Andreas Gryphius' Lustspiel »Peter Squenz« vor, 1969 inszenierte er mit Schülern der Oberstufe französische Kurzdramen (in der Fremdsprache!), 1973 schließlich ging es mit Molieres Schelmenstück »Scapins Streiche« regelrecht auf Tournee, unter anderem nach Niederstadtfeld, Gillenfeld und Kelberg.

Eine andere Art des Theatermachens mit Schülern begannen Sigrid und Hans Rößler 1984 mit einer Theater-AG der Unterstufe: ein selbst erstellter Text dient als Gerüst, um das herum in oft langwieriger Probenarbeit zusammen mit den Schülern das eigentliche Stück erst erspielt wird. Das Ergebnis war im Dezember die dramatische Parabel »Kalif Storch« nach dem Hauff'schen Märchen, die vom Zauber der Macht handelte und vom Tanz über den Gesang und die eigens von G. Jung komponierte Musik bis zum Schattenspiel alle Möglichkeiten des darstellenden Spiels einbezog. Diese Arbeit wird gegenwärtig von Frau Metzger-Pagel und Frau Gaul fortgeführt, die mit Schülern der Unterstufe ein Märchenspiel erarbeiten, in dem Märchen »total out« sind und deren Hauptfiguren die zu Beginn erwähnten Tom und Tina sind. Teile dieser Arbeit waren bereits während der Jugendbuchwoche im Mai 1986 zu sehen, die Arbeit am Stück wird im Schuljahr 1986/1987 fortgeführt.

Der Milchmann Tevje und seine Töchter, Leonce und Lena, Tom und Tina: alle waren im ersten Halbjahr 1986 am Thomas-Morus-Gymnasium zu sehen als eindrucksvolle Beweise für die Breite und die vielfältigen Möglichkeiten des darstellenden Spiels an der Schule. Wie sehr die Schüler selbst von der Theaterarbeit beeindruckt waren, zeigte sich im Juni: in Anspielung auf die aufwendige Probenarbeit hatten die Abiturienten ihre Entlaßfeier »Abitevka '86« genannt und in den Mittelpunkt das Lied des armen Schülers Tevje gestellt: »War' ich einmal Lehrer. ..«