Die »VI« trug Schrecken ins Land

4. November 1944 in Gees: »Angst vor den Freunden«

Christoph Stehr, Gerolstein

 

Eine militärtechnische Lüge half 1944 den »Endsieg« beschwören. Die »V1«, ein unbemannter Flugsprengkörper, sollte den in Deutschland zum alltäglichen Schrecken ausgewachsenen Bombenterror nach England tragen. Das Unternehmen scheiterte, weil die »Wunderwaffe« - als solche hatte sie die Propaganda ausgelobt - nicht im geringsten flugsicher war. Soldaten des 65. Korps Heinemann zündeten ab Juni 1944 viele Tausend der raketenähnlichen Geschosse, doch nur wenige erreichten ihr Ziel. Allein im Kreis Daun gingen nach Schätzung von Dr. Luy über 300 »V1« nieder. Einge der 55 in West- und Norddeutschland verstreuten Abschußrampen standen in der Eifel, in Waldlichtungen zwischen Gillenfeld und Eckfeld oder auf einer Teilstrekke der Eifelautobahn nahe Hasborn.

Die Bewohner der umliegenden Ortschaften urteilten nach dem Gehör, ob der Antrieb der »V1« zuverlässig arbeitete. Ließ das Gerät ein gleichmäßig hämmerndes Lärmen vernehmen und folgte es ohne Schnörkel der vorgezeichneten Flugbahn, so atmete man auf. Die Fensterscheiben klirrten, dann war »Dudderkätt« vorüber. Gefahr drohte, wenn eine »V1« torkelnd und mit stotterndem Aggregat anflog. Das Geschoß verlor rasch an Höhe und stürzte ab, wobei der Sprengsatz zündete. In der Umgebung Gerolsteins schlugen mehrere dieser Ferngranaten ein: auf der Dietzenley, der Hust-ley, im Kasselburger »Hahn«. Menschenleben forderte aber erst das Geeser Unglück vom 4. November 1944.

An diesem Sonntag sollte die Frühmesse nicht, wie in den vorangegangenen Monaten üblich, in Gerolstein, sondern in der Filialkapelle Gees gefeiert werden. Viele Kirchgänger genossen den ungewohnt langen Morgen. Gegen 7.30 Uhr kündigten lautes Spucken und Blubbern das Nahen einer defekten V-Waffe an. Der Flugkörper ging inmitten der zum Besitz Perings, Kirchstraße 6, gehörigen Stallung nieder. In einer Scheune nebenan hatten Truppen einen Munitionswagen eingestellt; die Granaten barsten zugleich mit der Sprengladung der »V1«. Die Detonation verursachte eine mächtige Erschütterungswelle, die erst weit jenseits der Gemeindegrenze abebbte. Das Anwesen Perings sank in Trümmer.

Im Wohnhaus hielten sich elf Personen auf, Gäste und Verwandte. Die Katastrophe überraschte sie im Schlaf. Wwe. Katharina Perings, ihre Geschwister Adam und Anna Surges, ihre Töchter Katharina Perings und Eva Freese, sowie die Enkel Hans-Georg Freese und Gisela Negenborn starben. Die beiden gegenüberliegenden Häuser Meeth und Jardin wurden vollständig zerstört, das Haus Noell schwer beschädigt. Der Druck- und Sogstoß der Explosion schleuderte Menschen und Vieh meterweit durch die Luft und deckte fast überall im Ort Dächer ab. Auf den Straßen lag feiner Glasbruch wie erster Schnee. Die Geschwister Fritz und Alla Meeth kamen um, ebenso Margarethe und Anton Jardin und Herr Noell.

Die Dorfbewohner strömten zusammen, um den ausgreifenden Brand einzudämmen. In einer Scheune wurden die Verletzten versorgt. Das von der Küsterin Frl. Leonards benachrichtigte »Rote Kreuz« konnte Stunden nach dem Unglück Überlebende aus dem Gebäudeschutt bergen. Pastor Molter bat während des Gottesdienstes in Gerolstein die Gemeindemitglieder, nach Gees zu eilen und dort zu helfen. Viele Menschen brauchten dringend ärztlichen Beistand; sie wurden auf die Lazarette und Krankenhäuser in Gerolstein, Daun und Andernach verteilt. Noch Wochen nach dem 4. November erlag ein junger Soldat seinen Verletzungen. Es waren somit 13 Todesopfer zu beklagen. Nicht geringer ist die Zahl derer, die lebenslang ein schweres Gebrechen davontrugen.

Offiziere und Ingenieure der Wehrmacht begutachteten die frischen Spuren der Vernichtung in Gees. Ihr Kummer galt jedoch nicht dem Leid der Bevölkerung, sondern dem Versagen ihrer Waffenschöpfung. Als sie offen mißbilligten, wie sehr sie der vorgefundene Zerstörungsgrad enttäusche, wandten sich die Einheimischen empört ab.

Um dem Winter zuvorzukommen, beeilte sich das »Technische Hilfswerk«, die Sachschäden notdürftig zu beheben. An einen Wiederaufbau dachte niemand; die Zeit war nicht danach. Doch die »V1 «-Abschüsse wurden unverdrossen fortgesetzt, was ein bezeichnendes Licht auf die Uneinsichtigkeit und Ohnmacht der deutschen Militärs warf. Jähe Furcht überkam fortan die Zeugen der Geeser Katastrophe, sobald sie wieder die unheilvollen Antriebsgeräusche einer »V1« vernahmen. Unwillkürlich gingen sie in Deckung - sie suchten Schutz vor deutschen Waffen, den »eigenen« Waffen. An dieser Stelle drängt sich der Gedanke an einen Buchtitel auf, der fast 60 Jahre nach jenem tragischen Ereignis erschienen ist: »Angst vor den Freunden«, geschrieben vom Saarbrücker Oberbürgermeister Oskar Lafontaine.

Die aktuelle Stationierung NATO-eigener Nuklearwaffen in der Eifel erlaubt zwar keinen Vergleich, aber sie nötigt uns doch, einen lokalen Bezug zum Thema herzustellen. Selbstverständlich haben die Raketenwaffen der jüngsten Generation wenig mit der urtümlichen »V1« gemein. Auch ist die heutige innen- und weltpolitische Situation eine andere. Das soeben aufgeschlagene Kapitel unserer Heimatgeschichte darf uns dennoch nicht unberührt lassen. Die Gefahr der »eigenen« Waffen ist auch heute gegenwärtig, und sie strahlt aus auf diejenigen, die in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft leben. Wer Furcht vor dem in der Eifel aufgestauten nuklearen Potential nicht respektiert, ist unempfindlich für das Entsetzen, das die Menschen in Gees am 4. November 1944 ergriff.