Gemeinschaftliche Selbsthilfe

Die Genossenschaftsgründer waren Helfer in der Not

Walter Zens, Morbach

 

Der Ursprung der genossenschaftlichen Idee mit dem Grundgedanken »Hilfe durch Selbsthilfe« liegt in Deutschland. Er ist jetzt etwa 140 Jahre alt. Aus einer angespannten Notsituation in der ländlichen Bevölkerung und dem breiten Mittelstand waren damals Reaktionen gefragt, die eine Katastrophe abzuwenden in der Lage waren, welche durch die politischen und wirtschaftlichen Abläufe des 18. und 19. Jahrhunderts sich immer deutlicher markierten. Sogenannte Geldverleiher, besser gesagt Wucherer, beuteten lange Zeit die Bauern und den kleinen Mittelstand mit Wucherzinsen aus. Bismarck schilderte 1847 in einer Rede im Vereinigten Landtag die damaligen Verhältnisse auf dem Lande wie folgt: »Ich kenne eine Gegend, wo es Bauern gibt, die nichts ihr Eigen nennen auf ihrem ganzen Grundstück; vom Bett bis zur Ofengabel gehört alles Mobilar den Geldverleihern. Das Vieh im Stall gehört ihnen, und der Bauer bezahlt für jedes einzelne Stück Vieh seine tägliche Miete. Das Korn auf dem Felde und in der Scheune gehört ihnen, und sie verkaufen dem Bauern das Brot-, Saat- und Futterkorn metzenweis. Von einem ähnlichen Wucher habe ich wenigstens in meiner Praxis noch nie gehört«. - Bismarcks Zeitgenosse, der Geschichtsprofessor Heinrich v. Treitschke, schrieb damals: »In Tausenden deutscher Dörfer sitzt der Wucherer, der seine Nachbarn wuchernd auskauft.«

Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen waren die Männer, die sich dieser Notsituation stellten und mit vollem Recht die bedeutendsten Vorkämpfer der genossenschaftlichen Idee und Begründer des gewerblichen und ländlichen Genossenschaftswesens genannt werden. Mit großem Engagement setzten sich die etwas jüngeren Zeitgenossen wie Geheimrat Wilhelm Haas aus Darmstadt in Hessen und Kaplan Georg Friedrich Dasbach aus Trier im Trierer Land für diese Idee der Selbsthilfe ein.

Wucherer im 19. Jahrhundert

Ohne voneinander zu wissen, jeder an seinem Platz, haben Schulze-Delitzsch und Raiffeisen auf einander ähnelnden Wegen versucht, in ihrer Umgebung für das notleidende Volk Hilfe zu bringen. Haas und Dasbach ließen sich von dieser Idee begeistern und gründeten in ihrem Umfeld zur Bewältigung der Notsituation ebenfalls Genossenschaftsbanken. Sie dienten dem Genossenschaftswesen und damit ihren Mitmenschen mit aller Kraft bis an ihr Lebensende.

Hermann Schulze-Delitzsch wurde 1808 in Delitzsch, Provinz Sachsen, geboren. Zunächst war er als Amtsrichter in Delitzsch tätig. Als linksliberaler Politiker im preußischen Landtag und im Reichstag galt sein Interesse insbesondere der Sozialpolitik. Durch seine persönliche Arbeit und seinen Einsatz hat er maßgebliche Impulse gegeben, die das Genossenschaftswesen bis heute überdauerte. Seine Zielgruppe war insbesondere die gewerbliche Seite, Handwerker, Arbeiter, denen er durcn genossenschaftlichen Zusammenschluß eine Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Situation bringen wollte. Sein Genossenschaftsverständnis fußte in dem Grundsatz »Selbsthilfe mit Eigenverantwortung in solidarischer Gemeinschaft.« In großzügiger staatlicher Hilfestellung allein sah er keine Lösung auf Dauer, das Los der Arbeiterschaft und des Mittelstandes zu verbessern.

Seine Arbeit und seine Person waren maßgeblich durch drei Merkmale gekennzeichnet: Eintreten für individuelle Freiheit in einer demokratischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, Empfindsamkeit für Unterdrückung und Engagement für Mitbürger, die den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Umbrüchen und deren Beherrschern und Nutznießern zu erliegen drohten, Blick für das Machbare und Sinn für Realitäten, statt illusionärer Vorstellungen.

1846 wird er aktiv und gründet in seiner Heimatstadt ein Hilfskomitee gegen den Hunger. 1850 gründete er in Delitzsch den ersten Vorschußverein mit zunächst mehr karitativem Charakter. Ihnen war kein dauerhafter Erfolg beschieden. Es entwickelten sich daraus die auch heute noch wirkenden Volksbanken. Fortan widmete sich Schulze-Delitzsch dem Ausbau des gewerblichen Genossenschaftwesens und wurde 1859 Leiter und Anwalt des Allgemeinen Verbandes der deutschen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften. Als zündender Redner und reger Publizist warb er durch eine Vielzahl von Vorträgen und Schriften für seine Genossenschaften. Die juristische Grundlage für seine Vereine brachte 1867 das in seinem Geiste abgefaßte »Gesetz betreffend die privatrechtliche Stellung der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften «.

Schulze-Delitzsch

Von 1818 bis 1888 lebte sein Zeitgenosse Friedrich Wilhelm Raiffeisen. In Hamm an der Sieg wurde er als 7. Kind eines Landwirts und Bürgermeisters geboren. Der frühe Tod des Vaters, legte eine große Last mit der Versorgung dieser großen Familie und der Erziehung der Kinder auf die Mutter. Sicherlich kein Einzelfall aus dieser Zeit und über die Jahrhunderte. Darum hier einmal Hut ab vor all den Frauen, die, da die Männer fehlten (Tod, Krieg etc.), Außergewöhnliches geleistet haben.

Nach der Volksschule und der Weiterbildung beim Ortsgeistlichen half Raiffeisen zunächst in der Landwirtschaft. Mit 17 Jahren ging er zum Militär, mußte die Laufbahn aber vorzeitig wegen eines Augenleidens aufgeben. Er ging in den Verwaltungsdienst, war Kreissekretär in Mayen und wurde mit 27 Jahren Bürgermeister von Weyerbusch, wo er 22 Gemeinden zu betreuen hatte. Hier entdeckte er schnell ein Betätigungsfeld, in dem er bald voll aufging. Nicht nur kommunale Aufgaben nahm er in seinen Verantwortungsbereich auf, sondern auch die persönlichen Sorgen seiner Gemeindemitglieder drängten ihn zum Handeln. Er zeigte sich als der »Meister aller Bürger«, indem er ihnen in allen Lebenslagen mit Rat und Tat zur Seite stand.

Eine Mißernte 1846 mit folgender Hungersnot drohte die bisherige Aufbauarbeit zunichte zu machen. Von der Regierung bereitgestellte Hilfe in Form von 150 Scheffel Mehl, verteilte Raiffeisen, nicht wie angeordnet, an zahlungsunfähige notleidende Leute gegen bar, sondern auf Vorschuß. Er setzte sich dann mit allen willigen Bürgern zusammen und gründete den Weyerbuscher »Brodverein«, auch Konsumverein genannt.

In Gemeinschaft wurde ein Backhaus errichtet und so konnte man fortan Brot backen und weit unter dem üblichen Preis an arme Mitbürger verkaufen. Das drückte auch den allgemeinen Brotpreis erheblich, so daß alle davon profitierten. Dieser Konsumverein dehnte seine Tätigkeit aus, um eine ständige Einrichtung zu bleiben. Es wurden Saatgut und sonstige Bedarfsgüter für die Landwirte beschafft.

1864 konnte Raiffeisen nach entsprechenden Beschlüssen in der Vereinsführung den Heddersdorfer Wohltätigkeitsverein in »Heddersdorfer Darlehnskassenverein« umwandeln. Damit führte er den Verein von der carititiven Fremdhilfe weg zur Selbsthilfe in Gemeinschaft. Die erste Genossenschaft, in der jeder Darlehnsnehmer Mitglied des Vereins sein mußte und damit auch Mitverantwortung zu tragen sich verpflichtete, war geboren. Diese Form des Zusammenschlusses machte die Vereinigung bei Banken kreditwürdig und bei großen Handelsunternehmen geschäftsfähig. Neben den sich ansammelnden billigen Eigenmitteln konnte Raiffeisen mit seinen Partnern die Konditionen zum Wohle seiner Mitglieder aushandeln und mußte nicht unwidersprochen akzeptieren, was man ihm abverlangte. Dem Wucher war Einhalt geboten.

Der Genossenschaftsgründer Raiffeisen

Bauern werden von ihren Höfen vertrieben

In der Umgebung konnte Raiffeisen bald weitere Genossenschaften gründen. Wer aber glaubt, daß gleich massenweise auch in anderen Teilen Deutschlands Gründungen erfolgten, der irrt. Mangelnde Informationsmöglichkeiten der damaligen Zeit (kein Rundfunk, kein Fernsehen, kaum eine Zeitung in jedem Dorf etc.), Skepsis der zum Teil von Wucherern ausgebeuteten Leute und natürlich Gegner dieser Raiffeisen'sehen Idee hemmten die schnelle Ausbreitung über Jahrzehnte. Raiffeisen wurde damals noch nicht vorbehaltlos als der große Mann und Retter in der Not anerkannt und gewürdigt. Er steckte aber nicht auf, und der inzwischen aufgenommene Briefkontakt mit Schulze-Delitzsch brachte ihm neue Erkenntnisse und Mut zum Weitermachen.

Fleißige Kleinarbeit, unermüdlicher Einsatz und Aufklärung in Versammlungen ließen die Zahl der Genossenschaften nach und nach wachsen und sich zunächst über ganz Deutschland ausbreiten. Später erfaßte diese Idee die ganze Welt. Seine Aufbauarbeit ging weiter, um das Werk zu vervollkommnen. Zur besseren Verwertung der Produkte aus ländlicher Erzeugung betrieb er die Gründung von Winzer- und Molkereigenossenschaften. Auch das Versicherungsgeschäft bezog er in die genossenschaftliche Arbeit ein. Bald erkannte er, daß die Ortsgenossenschaften zentrale Orientierungsund Informationsstellen, d.h. Anlaufstellen haben mußten, um das Geschäft marktorientiert vor Ort betreiben zu können.

1872 entstand in Neuwied die Rheinische landwirtschaftliche Genossenschaftsbank, um einen zentralen Geldausgleich für die örtlichen Darlehnskassenvereine anzubieten, 1874 ergaben sich gleichgeiagerte Gründungen in Hessen und in Westfalen. Diese Zentralbanken bildeten gemeinsam eine Generalbank.

Für den gemeinsamen Bezug landwirtschaftlicher Bedarfsgüter organisierte Raiffeisen Warenzentralen, die die Aufgabe hatten, für die Ortsgenossenschaften preisgünstig die Bedarfsgüter von guter Qualität für ihre Mitglieder zu beschaffen. 1877 bildete er als Prüfungsund Beratungsinstitution in rechtlichen und Steuerangelegenheiten sowie Investitionsüberlegungen und anderen Dingen den Anwaltschaftsverband als Vorläufer der vom Gesetz heute vorgeschriebenen Prüfungsverbände. Mit Recht wird Raiffeisen als Urheber der ländlichen Genossenschaftsbewegung und Schöpfer der typischen Form der Spar- und Darlehnskassen und des genossenschaftlichen zentralen Geldausgleichs und Warenbezugs heute geachtet und gefeiert. Er gehört zu den größten Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts, die in ihrer und aus ihrer Zeit verstanden haben, über den Tag hinaus zu wirken. Er lehrte gleichzeitig, die Not der Gegenwart zu überwinden und Zukunft zu gewinnen, konstruktive Lösungen auf Dauer zu suchen, Forderungen zu stellen, Rechte zu sichern, aber auch Pflichten abzuverlangen.

Unter den Augen von Wilhelm Raiffeisen verlassen Bauern den gepfändeten Hof.

Raiffeisen wurde 70 Jahre alt. Fast erblindet, wurde er frühzeitig in den Ruhestand versetzt, arbeitete aber noch 23 Jahre, assistiert von seiner ältesten Tochter Amalie, hingebungsvoll für den Ausbau und die Festigung seiner Genossenschaften. Im Todesjahr 1888 gehörten dem Anwaltschaftsverein Raiffeisen 423 Darlehnskassenvereine an. In Deutschland bildeten sich bis dahin weitere rund 1 300 ländliche Genossenschaften, die diesem Verband nicht beigetreten waren. Heute ist es gesetzliche Pflicht, daß jede Genossenschaft einem Prüfungsverband angehört.

Die Idee »Hilfe durch Selbsthilfe in Gemeinschaft« breitete sich aus und wurde auch in unserer Heimat aufgegriffen. Darüber soll ein weiterer Bericht im nächsten Jahrbuch erzählen. Dabei werden die Gründungen von Genossenschaften für vielfältige Aufgaben in der damals wohl ärmsten Gegend Deutschlands, Ei-fel und Hunsrück, im Vordergrund stehen. Der personelle Mittelpunkt dieser Darstellung wird u.a. der große Genossenschaftsgründer und Führer des Trierer Landes, Kaplan Georg Friedrich Dasbach aus Trier, sein. Was Raiffeisen für den Mittelrhein und Westerwald gewesen, war Dasbach in seiner Zeit für das Trierer Land: Eifel, Mosel, Hunsrück.