Der Neu jähr s weck und das »Manschen«

Theo Pauly, Gerolstein

 

Ich weiß nicht, ob es ihn heute noch gibt, den Neujahrsweck, zumindest erfüllt er nicht mehr die Funktion, die er noch vor 30 oder 40 Jahren hatte. Der Neujahrsweck war ein Ereignis, ein einmaliges Ereignis, obwohl jedes Kind ihn bis zum Alter von 14 Jahren, also bis zur Schulentlassung, jeweils zum Neujahrstag erhielt. Wer keinen bekam, hatte selbst Schuld, denn den Neujahrsweck mußte man »holen« gehen.

Der Neujahrsweck war ein Backwerk aus Weizenmehl und Hefe, in der Art eines Weißbrotes gebacken, nur war er wie ein Zopf geflochten und hatte die Form eines Kranzes, weswegen er auch häufig als »Neujahrskranz« bezeichnet wurde. Dieses Gebäck gab es zwar damals auch schon in der Bäckerei zu kaufen, aber wem wäre es eingefallen, gutes Geld auszugeben für etwas, das man selbst und dazu noch viel billiger herstellen konnte. Außerdem hatte jeder Neujahrsweck seine individuelle Note und Aussehen, das war wichtig für die Bewertung beim Vergleich der »abgeholten« Neujahrswecken in der Familie.

Den Neujahrsweck erhielt das Kind von seinem Taufpaten. Solange das Kind noch nicht schulfähig war und der Taufpate wohnte im nächsten oder übernächsten Dorf, wurde ihm der Neujahrsweck vom Paten ins Haus gebracht. War das Kind aber eingeschult, mußte es bis zur Schulentlassung seinen Neujahrsweck selbst »holen« gehen, oder darauf verzichten. Aber wer wollte das schon! Zudem ist ja Neujahr nicht weiter hinter Weihnachten, und so kam zu dem Weck auch immer noch eine Tüte mit Weihnachtsgebäck. Das war damals sehr willkommen, waren doch die Tage im Jahr gezählt, an denen ein Kind in der Struth mit Süßigkeiten bedacht wurde. Ja, Bonbons gab es »zu«, wenn man als Kind beim Klasen in Neichen oder bei Zenz in Boxberg einen Einkauf tätigte, aber Plätzchen und Ähnliches gab es nur zu Nikolaus oder eben zu Weihnachten und dann auch nicht im Übermaß. So war die Tüte zusätzlich zum Neujahrsweck stets beliebt.

Mein Taufpate war traditionsgemäß, da ich derälteste Sohn war, mein Großvater väterlicherseits. »Pättchen«, wie er auch von meinen Geschwistern genannt wurde, wohnte in Kradenbach. So führte alljährlich am Neujahrstag mein Weg von Beinhausen durch die Neichener Struth an der »Mühle« vorbei, wo heute Einheimische und Gäste dem Angelsport frönen, nach Kradenbach. In der Tasche trug ich wie bei allen Besuchen, die »Pättchen« galten, das obligatorische »Viertel Strangtabak«. Dem Großvater konnte man keine größere Freude machen, als ihm als Gastgeschenk ein Viertel dieses schwarzen, zu einer Wurst gedrehten Tabaks mitzubringen. Mit großem Zeremoniell erhob sich dann der Großvater aus dem Ohrensessel, ging die paar Schritte zum Stubentisch, ergriff ein etwa 2 cm dickes, 15 x 10 cm messendes Brettchen von der Fensterbank, legte den Strangtabak darauf, entnahm seiner Hosentasche ein recht großes Taschenmesser und begann, den Tabak zu schneiden und in Krüllschnitt zu verwandeln, bis etwa eine Handvoll grob geschnittenen Tabaks auf dem Brettchen lag. Dann holte er aus der Jackentasche die getrocknete Schweinsblase und legte sie geöffnet auf den Tisch. In die hohle Fläche der linken Hand wurde der auf dem Brett liegende »Krüllschnitt« mit der rechten Hand gescharrt und mit dem Daumenballen der rechten Hand in der linken Handfläche klein gerieben. Danach fand der nun pfeifengerechte Tabak Aufnahme in der Schweinsblase, aus der dann das »Hänschen« gestopft wurde. Das »Hänschen« war die irdene Pfeife, die die Alten jeder hölzernen oder gar Meerschaumpfeife vorzogen. Es ist nachgewiesen, daß damals auch Eifeler Frauen ihr »Hänschen« schmauchten, obwohl ich selbst in meiner Kindheit nie eine rauchende Frau gesehen habe.

Mit dem »Hänschen« hatte es seine besondere Bewandtnis: Diese irdene Pfeife besaß bei ihrem Kauf noch einen Stiel von etwa 10 bis 12 cm Länge. Nach dem Kauf brach der Besitzer diesen Stiel auf Daumenlänge zum Pfeifenkopf hin ab. Die Bruchstelle wurde dick mit einem Zwirnfaden umwickelt, damit man sein Hänschen besser zwischen den Zähnen, in einer Zahnlücke oder gar im zahnlosen Mund festhalten konnte. Nun wurde das »Hänschen« angeraucht. Hierbei gab es wahre Künstler, denn der schneeweiße Pfeifenkopf mußte langsam von unten nach oben bräunen. Das dauerte seine Zeit, Wochen und Monate, je nach der Menge der täglich gepafften »Hänschen«. War nun der gesamte Pfeifenkopf braun oder vielleicht gar schwarz gefärbt, taugte die Pfeife nichts mehr. Ein neues »Hänschen« wurde für wenig Geld Gefährte der Schweinsblase. Auf diese Art und Weise erlebte ich acht »Neujahrswecken«, was nicht heißen soll, daß ich dieses Zeremoniell des Strangtabak-Schneidens nicht hätte öfters erleben dürfen; zu »Pättchen« gingen wir alle auch zwischendurch gern.

Meinen letzten Weck war ich »holen« am Neujahrstag 1945. Der Weg von Beinhausen nach Kradenbach war damals nicht ganz ungefährlich wegen der Tiefflieger. Englische und amerikanische Jagdbomber beherrschten in diesen letzten Kriegstagen den Luftraum über der Eifel und nicht selten ist es vorgekommen, daß die »Jabos« auch Fußgänger unter Beschüß nahmen. Aber selbst diese Tatsache konnte mich nicht davon abhalten, »meinen Neujahrsweck« abzuholen. Für »Pättchen« gab es diesmal keinen Strangtabak. Dafür aber einen Büschel Tabaksblätter, die Vater selbst im Hausgarten gezogen und geerntet hatte.