Die Bedeutung des fränkischen Volksheiligen St. Martin

Paul Krämer, Gerolstein

 

In der Reihe der Volksheiligen und ihrer Verehrung genießt im Abendland der heilige Martinus eine besondere Stellung. Der aus Ungarn stammende römische Soldat und spätere Bischof von Tours an der Loire (371- 379) ist weithin zum Sinnbild der christlichen Nächstenliebe geworden. Als junger Reiteroffizier begegnete ihm vor den Stadttoren von Amiens im Norden Frankreichs jener Arme, der sein Leben entscheidend veränderte. Das Motiv der Mantelteilung belebte seit jenen Tagen die christliche Kunst bis zur heutigen Zeit. Die ungewöhnlich weite Verehrung dieses Heiligen im merowingisch-karolingischen Raum weist hin auf die große Bedeutung jenes Mannes, der durch seine Mission die germanische Welt zum Christentum erschloß. Allein in Frankreich tragen über 300 Dörfer und 3 700 Pfarreien seinen Namen. Von hier aus ist die Verbreitung seines Patroziniums im westdeutschen Raum zu verstehen.

Schon früh verbindet sich mit der Person des heiligen Martinus ein interessantes Brauchtum in Volkskunde und Rechtsgeschichte. In vielen Bereichen des Lebens wird Martinus als Helfer angerufen. Er ist der Schutzpatron der Ritter, Soldaten, Reiter, früher auch der Jäger, heute noch für die Bettler, Gefangenen, Schneider und Reisenden. Er gilt als Patron des Viehs, besonders der Gänse, und auch ihrer Hirten; zudem ist er noch ein Wetterheiliger. Seine Hilfe erflehen Aussätzige, Fiebernde und Augenkranke, denen das Martinsöl ein heilsames Linderungsmittel ist. In der Bildkunst wird Martinus als Bischof oder Reitersmann dargestellt. Kirchliche wie weltliche Gewalten von den Niederlanden bis zum Main siegeln mit seinem Bild. Auch Städte, Zünfte und Gerichte achten darauf; das Mainzer Domkapitel führt schon im 14. Jahrhundert in seinem Siegel Bischof Martinus, auf dem Faltstuhl thronend, das aufgeschlagene Evangelienbuch in der Hand. Für das Jahr 1190 zeigt ein Siegel der gleichen Stadt den Heiligen in vollem Ornat auf der Stadtmauer, mit Hirtenstab und segnender Hand. Allein 16 rheinische Städte, unter ihnen Oberwesel, Kerpen, Zons und Münstermaifeld, zeigen ähnliche Siegel. Die Verehrung des heiligen Martinus war konzentrierter im Raum Utrecht/Holland, um Lucca/Norditalien, am Mittelrhein und im Frankenland. Das Erzstift Mainz verehrte Martinus als seinen Schutzpatron. Nicht wunderlich, wenn im Rheinland Rechtsleben und Brauchtum wesentlich dadurch beeinflußt wurden. Das christliche Mittelalter verband mit dem Martinsfest am 11. November auch die Einrichtung eines besonderen Marktes. Es wurde so schnell Sitte, mit gewissen Heiligenfesten auch Jahrmärkte als Tauschmärkte abzuhalten. Das heute übliche Wort »Kirmes« (französisch »kermesse«) zeigt noch die enge Verbindung von Gottesdienst (Missa = Messe) und folgendem Markte um die Kirche herum. War Martinus zugleich Pfarrpatron, so war sein Festtag jener Stichtag für den Jahrmarkt. Das Datum war günstig, die Ernte geborgen, das Vieh eingestallt, die neue Saat bestellt. Ein solcher Jahrmarkt galt nicht nur für den Landmann. Die Qualität des Geschäftes richtete sich nach der Anzahl der auftauchenden Händler und Krämer. Der Markt galt als normaler Tauschplatz der Güter von Handwerkern, Bauern und Kaufleuten. Sie alle standen im Schutz eines Marktsonderrechts, das geistliche und weltliche Grundherren gewährten. Der König sicherte allein für den oft drei Tage dauernden Markt freies Geleit zu. Am Marktplatz selbst herrschte ein strenger Friede, Markt-bann genannt, dessen Störung der Grundherr scharf bestrafte.

Noch bedeutender für das Landvolk war Martini als Rechstermin. Früher wurde auf dem Martinsmarkte das Wirtschaftsjahr abgeschlossen. Rechtliche Abmachungen wie Pachten und Zinsen waren fällig, und der oft notwendige Gesindewechsel wurde vollzogen. Zinshühner galten als Bestätigung geschlossener Verträge. Hatte jemand sein Erbzinslehen an Martini vor Sonnenuntergang nicht entrichtet, so verlor er seinen Anspruch. Auf dem flachen Lande gilt vielerorts noch heute Martini als Termin zur Zahlung fälliger Landpachten. Ebenso verbreitet sind die vielen Bräuche, die sich um die Gestalt des Heiligen ranken. Die Sitte, Martinus am Abend seines Festes beim Mahle in Liedern zu feiern, ist schon in fränkischer Zeit bekannt. Der Heilige wird als Spender und Mehrer des köstlichen Weines dargestellt. Das Mittelalter pflegte in seiner glücklichen Mischung von sinnlicher Freude und Frömmigkeit ausgesprochene Martinsgelage, an denen Gänse, Enten, Puten, Hühner und Kapaune in nicht geringer Zahl verspeist wurden. Einen besonderen Haustrunk reichten im Jahre 1397 die Mainzer Domherren ihren Bediensteten. Dies bürgerte sich schnell ein, und so spendeten am Vorabend von Martini die Handwerksmeister ihren Gesellen, die Kunden den Handwerkern, die Herrschaft dem Gesinde, der Stadtrat den Beamten die Martinsminne zum Trank. Die obigen Martinsgelage finden heute unser Interesse wegen ihres Liedgutes. Wandernde Musikanten, Gesellen und Studenten verbreiteten die anfangs noch in lateinischer und deutscher Sprache gesungenen Lieder von den Niederlanden bis nach Ostdeutschland. Sie alle besingen Martinus als den gütigen Spender des Weines und Gänsebratens. Kein Wunder, wenn die Wirte des alten Paris diesen Heiligen sich zum Patron erwählten. Ihre Siegel zeigen Martinus schon früh als Wirt, mit Schlüsselbund und Glocke. Stolz trägt noch heute jede zweite Wirtschaft den Namen »Au Grand Saint Martin«. Im Sinne der Zecher hieß es dann: »Da trinck undt isß, wer rect trincken kan, der iz ein gueter martins man.« Die Winzer der Bourgogne wählten St. Martin zu ihrem Patron und öffneten an seinem Festtag die Fässer zur Probe des neuen Weines; den Zapfen schlagen hieß dann: »Martiner le vin.« Ein ähnliches Brauchtum hatte sich in Portugal, in Oberitalien und in deutschen Weingegenden entwickelt.

Noch heute singt bei uns der Kindermund: »Marteine, Marteine, macht Wasser zu Weine!« Im ganzen christlichen Abendland war dies Brauchtum der Martinsgelage bekannt. Wer konnte neben der Gestalt des Heiligen mehr Lob finden als das festliche Opfertier, die Gans! Sie war es ja, die den bescheidenen Mönch dem suchenden Volk von Tours verriet; so die alte bretonische Legende. Schon im 13. Jahrhundert zeigt das Domherrensiegel von Tours eine Gans, die den Heiligenschein des Martinus berührt. Die Bauern des Mittelalters bezeichneten schlechthin die Gans als »Martinsvöglein«. Aus dem Brauchtum scheint sich die Gans, Attribut des beliebtesten Heiligen der Franken, eingebürgert zu haben. Noch viele Martinslieder des Mittelalters erwähnen immer wieder jenes Tier, ein wichtiger Beitrag des Festessens. Im Kloster Limbach fand sich eine Handschrift aus dem 14. Jahrhundert mit folgendem Text: »Martein, lieber Herre, nu lasz uns frölich sein, heut zu deinen eren undt durch den willen dein; dy genns solt du uns meren undt auch den kuehlen Wein; gesoten undt gepraten sy muessen al herein!«

Es zeigt sich immer wieder, wie zäh das gläubige Landvolk tragende Elemente der Heiligenverehrung durch die Wirren der Geschichte bewahrte. An kaum einer anderen Gestalt des Heiligenkalenders wird uns dies offensichtlicher als an jenem großen Bischof Martinus von Tours, des Schutzpatrons Frankreichs, der auch heute noch im westlichen Grenzland rege kultische Verehrung genießt.