Beim Gillenfeider Pfarrer in Quartier

Eine tragische Manövererinnerung

 

Herr Anton Sartoris, Immerath, fand in der Unterhaltungsbeilage zu »Frisch auf« des Eifelvereins Neuß folgende spannende Erzählung von Georg Barthel Roth, die bereits im Februar 1911 erschien. Sie gewährt uns aufschlußreiche Einblicke in das Leben und Handeln, in menschliche Verhaltensweisen und soziale Gegebenheiten von Bürgern des Kreises Daun um die Jahrhundertwende. Zu dieser Zeit lag oben am Pulvermaar bei Gillenfeld eine Batterie des 44. Feldartillerieregiments im Biwak. Bereit, eine von vielen Manövern im Leben eines Soldaten durchzuführen. Der Major dieses Regiments hatte just in jenem Jahr in Gillenfeld ein Erlebnis, das ihn erschütterte. Lesen wir, was er selber berichtete. Er setzt ein mit dem Abmarsch nach einem zweitägigen Aufenthalt in Neumagen an der Mosel:

»Batterie halt, Kanoniere abgesessen, Batterie marsch!«, so scholl das Kommando, und die Fußmannschaften sprangen von Protzen und Lafetten. Es ging scharf bergauf, da sollten die Fußleute ihr Gewicht selbst tragen und die braven Gäule entlasten. Tat den Kerlen auch gut nach den zwei weinfrohen Tagen. Wir hatten einen ordentlichen Kriegsmarsch vor uns. Von der Höhe sahen wir noch einmal hinab zur lieblichen Mosel, der Trompeter blies auf Befehl des Hauptmanns hinab: »Eh' daß wir scheiden müssen«. Nun begann der Abstieg in's Salmtal. Wir marschierten durch Rivenich, folgten dann in lustigem Trabe dem munteren Laufe der Salm, die uns entgegen in die Mosel eilte und sahen in Sehlem durch die grünen Bäume des vorliegenden Waldes den alten Wallfahrtsort Klausen mit seiner aus roten Sandsteinen erbauten Kirche schimmern. Vorbei an grünen Wiesen, an mächtigen Wäldern ging es nach Wittlich. Dort wurde getränkt und in der »Traube« ließ uns ein kurzer Frühschoppen die beiden Moseltage für den Augenblick vergessen. Dann ging es weiter an Greimerath vorbei, durch Oberscheidweiler nach Strohn. Gillenfeld sollte unser Quartier sein. Die Hitze war fast unerträglich. Ein erlösendes Aufseufzen ging durch meinen Zug - zwei Züge waren in Oberscheidweiler einquartiert - als endlich an einer romantischen Brücke die Quartiermacher auftauchten. »Herr Leutnant liegen beim Pastor«, meldete mir der Sergeant, der mit einem Einjährigen die Quartiere gemacht hatte. »Ein gutes Quartier«, fügte er schmunzelnd hinzu und schlug die Hacken zusammen.

Es wurde abgespannt, die Pferde und Kerls rückten in die Quartiere. Ich revidierte die Ställe und suchte meinen Wirt auf. Nachdem ich mich zum Menschen gemacht, ging ich meinen Quartierherrn zu begrüßen. Der Pfarrer war ein hochgewachsener, greiser Herr, der im Knopfloch der Soutanelle das schwarzweiße Band des eisernen Kreuzes trug. Er stand von seinem Schreibmaschinentisch auf, begrüßte mich mit kräftigem Handdruck. Nach den ersten Worten der Unterhaltung wies er auf die Schreibmaschine hin und sagte lächelnd: »Ich habe eine solch schlechte Schrift, da habe ich's mir angewöhnt, mit der Maschine zu schreiben, ich schriftsteilere so allerhand.«

Im Nebenzimmer stand ein vortrefflicher Imbiß und bei kühlem Mosel rann die Zeit schnell dahin. Er hatte im Jahre '70 als Student sich freiwillig zu den Jägern gemeldet, im heißen Kampfe um die Schlacht bei Gravelotte sich das eiserne Kreuz verdient. Nach dem Feldzug hatte er seine theologischen Studien wieder aufgenommen und war dann als Pfarrer in die ihm liebgewordene Eifel gekommen. Langeplauderten wir, bis die Mitternacht uns zu Bette trieb.

Ich hatte kaum eine Stunde geschlafen, als ein furchtbares Gewitter losging. Gleichzeitig hörte ich - ich schlief zu ebener Erde - ein heftiges Klopfen an der Türe. In der Meinung, es sei einer von unsern Kerls öffnete ich das Fenster und sah bei den leuchtenden Flammen der Blitze einen zerlumpten Bauer vor der Haustür stehen, triefend vor Nässe: »Dään Maathes is geschoß gään, hänn will sterven, wu es dään Pastor?« Da erschien auch schon der Pastor und es ergab sich, daß der Maathes auf einem Pirschgange - er war ein tollkühner Wilddieb -mit dem Förster Kugeln gewechselt und einen Schuß in die Lunge erhalten hatte. Mit Gras hatte er sich die Wunde zugestopft und auf ihm nur bekannten Schleichwegen nach Hause geschleppt. Da lag er nun im Sterben. Der Doktor aus Gillenfeld war über Land. Gut, daß man wenigstens den Pastor erreichte, damit Maathes als reuiger Christ sterben konnte. »Und dabei ist der Weg so weit«, sagte der Pastor »und Eile tut not«. Ein Gedanke durchflog mir den Kopf. »Ich werde Sie auf der Protze hinfahren«. Mein Bursche war schon wach: »Anziehen und« - ich griff nach der Zugeinteilung -»den Fußhöller wecken, er liegt bei Josef Mer-tesdorf im Quartier.« »Das ist hier nebenan«, sagte der Pastor. - »Desto besser. Er soll sofort die Pferde vom fünften Geschütz anschirren und die Protze bespannen. Wir bringen den Herrn Pastor zu einem Kranken«. Ich fuhr in die Kleider, nach kaum 5 Minuten standen die Leute und die zitternden Pferde im flammenden Scheine der zuckenden Blitze vor dem Pfarrhaus.

»Fußhöller, aufsitzen!« Es geschah. Der Pastor hatte unterdessen die Sterbesakramente in der Kirche geholt, und wir bestiegen die Protze. Der Pastor mit dem Allerheiligsten in der Mitte, der Neffe des Maathes rechts, ich links, so hielten wir den alten Herrn in unsern Armen fest. »Kurze Zügel« rief ich noch dem Fußhöller zu, aber der Befehl war nicht nötig, er war der beste Stangenreiter der Batterie. Und nun ging es im Gewittersturm im Marschmarsch über die Landstraße, was die Gäule nur im Leibe hatten. Der Regen peitschte uns ins Gesicht, die Blitze lohten und vielfach von dem Echo der Berge widerhallend brüllte der Donner durch das Tal. So waren wir fast eine halbe Stunde gefahren. »Hier müssen wir halten«, sagte der Pfarrer. Wir stiegen ab und begannen den Aufstieg auf steilem Bergpfad. Nach einer Viertelstunde standen wir in der kleinen Hütte, in der Maathes im Sterben lag. Auf einem Bund Heu ausgestreckt, ein sehniger, lederfarbener Kerl, das schmierige Hemd über der zottigen Brust aufgerissen. Langsam sickerten hellrote Blutstropfen aus dem kleinen Loch unterhalb des Herzens. Lungenschuß, meinte mit einem verzweifelten Lächeln der Maathes, als der Pastor sich beim Scheine der schwelenden Petroleumlampe über ihn beugte und die Wunde untersuchte. »Lassen Sie uns beide allein«, sagte der Pfarrer zu uns. Der Neffe und ich traten vor die Türe der jämmerlichen Hütte. Das Wetter hatte sich beruhigt. Fern am Horizonte zuckte nur noch rotes Leuchten. Hinter der Tannenschonung stand groß und voll der Mond und goß sein silbernes Licht in das stille Tal der Alf. Unten auf der Chaussee wieherte eines der Stangenpferde; fern aus dem Buchenwalde klang gespenstig der Schrei eines Totenkäutzchens.

Der Pfarrer trat heraus: »Maathes hat gebeichtet und kommuniziert, wir wollen ihm beim Sterben zur Seite stehen.« Wir traten hinein. Mit weitaufgerissenen Augen lag der Wilddieb da. Nur die Augen lebten noch in dem lederfarbenen Gesicht. Keuchend ging seine Brust, Schweißtropfen standen ihm auf der Stirne. Derweil ich ihm die feuchte Stirn trocknete, kniete der Priester nieder und sprach die Sterbegebete. Auf einmal richtete sich Maathes halb in die Höhe, dann fiel er zurück, seine Augen brachen. »Requiescat in pace« murmelte der Priester und drückte ihm die Augen zu. Ich pflückte draußen einen frischen Eichenbruch und legte ihn dem Wilddieb in die gefallenen Hände.

Dann gingen wir. Mit hellem Licht stand der Mond über dem Alftal. Dem Neffen überließen wir die Leichenwacht. Mich hatte das ganze Erlebnis tief ergriffen.

Wir fuhren im Schritt zurück. Auf der Heimfahrt erzählte mir der Pastor, den der Sterbendevom Beichtgeheimnis entbunden hatte, die Beichte des alten Wilddiebes. Vor langen Jahren war oben am Maar der alte Förster, der Vater des jetzigen, erschossen aufgefunden worden. Verdächtig war ein Bursche aus Man-derscheid, der mit dem alten Förster zusammen an demselben Mädchen gefreit hatte. Er wurde in Untersuchung genommen, aber es war ihm nichts nachzuweisen. Indessen, sein junges Leben war durch den Verdacht der Mordtat verpfuscht.

Nun hatte der alte Wilddieb gestanden, daß er den Förster erschossen hatte und den Pfarrer gebeten, dies in der Öffentlichkeit bekannt zu geben. »Wundersame Fügung des Schicksals«, sagte der alte Pastor, »da rächt, ohne es zu wissen, der Sohn den Tod des Vaters«. Als wir in Gillenfeld ankamen, dämmerte schon der Morgen herauf. Das gemeinsame Erlebnis hatte zwischen dem Pastor und mir eine innige Freundschaft geschaffen. Jedes Jahr verlebte ich meinen Urlaub in dem traulichen Gillenfeld. Vor drei Jahren haben wir den alten Herrn auf dem kleinen Kirchhof zur Ruhe gebettet. Als sich die Fahne des Krieger-Vereins über seinem Grabe senkte, und die drei Ehrensalven durch das Tal rollten, war es mir, als sänke ein Stück meiner Jugend in das Grab hinein. Auf seinem Grabstein aber habe ich ihm die Worte einmeißeln lassen, die Scheffel in seinem »Trompeter von Säckingen« dem Pfarrherrn auf dem Lande widmet:

»Wo's in der Gemeinde einen Span galt auszugleichen,

Wo die Nachbarn hämisch stritten,

Wo der Dämon böser Zwietracht Ehe stört und Kindestreue,

Wo des Tages Not und Elend schwer den armen Mann bedrückte,

Und die hilfsbedürft'ge Seele sich nach Trost und Zuspruch sehnte;

Da, als Friedensbote kam der

Alte Herr einhergeschritten, wußt für jeden aus dem Schatze

Reichen Herzens Rat und Labsal.

Und wenn drauß in ferner Hütte einer auf dem Sterbelager

Mit dem Tod den harten Kampf rang, da - um Mitternacht -

zu jeder Stund' wo's an die Pforte klopfte,

- ob auch Sturm den Pfad verwehte -

Klomm er unverzagt zum Kranken,

Spendet ihm den letzten Segen.«