Der kleine Weg des Bruder Matthias

»Ich hab den Himmel vor mir - und mein Leben gelebt«

Herbert Schneider OFM, Düsseldorf

 

Am 19. September 1986 starb der Franziskaner Matthias Utters im Alter von 52 Jahren in Hermeskeil.

Er war Bruder und Priester, ein faszinierender Mensch in seiner Einfachheit, die ins Herz traf, in seiner Leidenskraft, die andere stärkte, in seiner Freude, die aus dem Vertrauen auf Gott kam.

In seinem Heimatort Dockweiler in der Eifel freuten sich die Leute, ihn zu sehen - und er freute sich, den Menschen zu begegnen. Jeder hatte den Eindruck, daß dieser junge Mann auf jeden persönlich zuging.

So war er schnell im Gespräch mit jemandem an der Straßenecke, an der Haustür, im Stall. Wo er sah, daß unmittelbar ein Handgriff zu tun war, packte er an, nicht aufdringlich, eher still nebenbei. Von seiner Freundlichkeit sahen sich viele angenommen, sie stellte sich nebenbei ein, unaufdringlich, höflich, aber auch verbindlich.

Bruder Matthias machte in Mönchengladbach sein Studium in Vorbereitung auf die Priesterweihe. Er hatte schon länger mit den Augen Nöte und nahm Tropfen.

Eines Tages verwechselte er Warzentropfen mit Augentropfen. Seine Augen brannten. In der Meinung, die Schmerzen gingen wieder vorüber, brannte sich die ätzende Flüssigkeit in die Augen, das Unheil nahm seinen Lauf. Er suchte schließlich einen Arzt auf. Matthias wurde für etwa zehn Jahre blind. Er wurde als Blinder zum Priester geweiht. Neue medizinische Möglichkeiten ließen ihn in beschränktem Umfang das Augenlicht wiederfinden. Aber in der Zeit seines Blindseins lernte Matthias ein neues Sehen, von innen her. Mit Energie ging er den Schritt von sich weg zu anderen Blinden, denen er beistand, im Blindenheim in der Nähe des Mönchengladbacher Klosters. Er lud Mitbrüder zur Mitarbeit ein und so entwickelte sich ein ganzes Betreuungsnetz unter seiner Initiative.

Matthias wurde als Blinder vor allem ein Hörender. Er konnte Zeit seines Lebens gut zuhören, selbst noch in den letzten Jahren, als seine Hörfähigkeit ernsthaft zurückging.

Matthias klagte über seine Leiden nicht, auch nicht über Mißverstehen, so sehr war er den anderen zugetan. Stets suchte er objektive Gründe und drückte die Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation, in der beide sich befanden, aus.

Mitunter entzogen sich Mitbrüder auch der Sogkraft des Matthias. Sie befürchteten, ihm zu erliegen, aber sie achteten seine Fähigkeiten. Er wußte um diese Veranlagung, Menschen in seinen Bann zu ziehen. Umso beachtlicher ist es, wie sehr er mit den Jahren Menschen zur Konfrontation mit ihrem eigenen, oft verdeckten Ich führen konnte. Er band sie nicht an sich, sondern war bestrebt, sie zu ihrer eigentlichen Wesensart zu befreien.

Von Krankheiten war Matthias heimgesucht. Erwähnt wurde schon die Blindheit und die Schwächung der Hörfähigkeit. Eine Magenoperation kam hinzu. In den letzten Jahren mußte er ein Korsett tragen. Allein konnte er sich nicht mehr hochhalten. Wo er auch war, mußte er abends und morgens aus- und angezogen werden. Er lernte, schlicht und einfach um Hilfe zu bitten und ließ sich helfen, wirklich hineingegeben in die Hände der Brüder und Schwestern. Mußte jemand sich dabei überwinden, so machte es ihm Matthias leicht, erklärte, tat selbst, was er konnte, war freundlich in allem. Kein Zeichen von Ungehaltensein und Vorwurf, eher tröstete er den Helfer. Feinfühlig sah er die Not der anderen.

Bruder Matthias Utters, OFM Franziskaner, in Dockweiler geboren, in Hermeskeil 1986 verstorben. Kaum 50 Jahre lebte er, doch die im Dienste für den Mitmenschen.

Es sind nicht alle Krankheiten aufzählbar, 29 Operationen mußte er über sich ergehen lassen. Er hat die Krankheit nicht gesucht, oft genug gestand er mit einfachen Worten seine Angst. Aber dann nahm er immer wieder das Unausweichliche an. Er litt an Krebs. Schließlich wurde der linke Arm amputiert. Matthias wurde noch hilfloser, und er erreichte es, sich mit Willenskraft zurechtzufinden. Es war die Kraft aus einem ausgelieferten und zugleich voll angenommenen Leben.

Unser Bruder Matthias hatte sich in seinem Leben schon zeitig auf den Tod eingestellt, war er ihm in manchen Operationen doch schon nahegekommen. Davon sprach er auch, und verstand, andere zu trösten und zu ermuntern, den eigenen Tod anzunehmen. Noch einige Tage vor seinem Tod hatte er eine junge, krebskranke Frau, die in Unruhe und Angst ihn mit ihrem Mann aufsuchte, auf ihr Sterben vorbereitet. Tage später starb diese Frau, mit sich versöhnt.

So auch ist Matthias gestorben, in der Art, wie er andere gelehrt hat. Ehe er auf die Intensivstation gebracht wurde, erklärte er, daß er keinen Anschluß an die Maschinen wünsche, es sei denn zur Kontrolle, nicht zur Lebensverlängerung. Er nahm sein Sterben mit vollem Ja an als Gottesereignis und Begegnung mit dem Herrn.

Matthias hatte Menschen von Herzen gern. Daher sahen sich so viele von ihm verstanden und bei ihm gut aufgehoben.

Mit den Glaubenden glaubte er, mit den Trauernden war er traurig, mit den Frohen froh, mit den Suchenden machte er sich auf den Weg. Diese Fähigkeit, einen Weg mit anderen zu gehen, zeichnete ihn aus.

Manchen jungen Menschen hat Matthias den Weg zum geistlichen Leben erschlossen. Er hatte die Gabe, die Stelle im Ich des Menschen zu sehen, wo der Anruf der Nachfolge lebt und auch Wachsen wartet. Gewiß war die Art von Matthias nicht nach jedermanns Zuschnitt - und das war auch nicht nötig. Oft wurde das nicht erkannt. Der Bruder konnte eigene Wege nicht ersetzen, er konnte nur eine bedingte Hilfe geben. Die allerdings war überzeugend.

Matthias verankerte sein persönliches Leben und das Leben seiner Gemeinschaft in der Kontemplation. Er selbst war ein Mann Gottes, der aus innerer Überzeugung und mit Selbstverständlichkeit unter den Menschen unserer Zeit als Ordensmann und Priester auftrat. Er hat im Innenleben der Provinz eine wichtige Rolle gespielt, nicht nur bei vielen jungen Mitbrüdern, auch bei älteren. Manche fragten ihn, wie er es mache, so zu leben, wie er lebte. Dann gab Matthias schlicht und einfach von seiner Hoffnung Zeugnis.

Matthias ging mit seinen Brüdern und der Klostergemeinde, für die er den Hermeskeiler Klosterbrief herausgab, auch den Weg in die Mission. Es wurde viel gebetet, menschliche Kontakte ergaben sich, so zum Franziskaner-Bischof Quirino Schmilz aus Brasilien. Der schrieb zu seinem Tod: »Jetzt ist uns Matthias noch näher.«

Dem Bruder Matthias war es vergönnt, noch im Mai des Jahres 1986 eine Brasilienreise zu machen, die ihn zu Freunden führte. Er kam mit großen Eindrücken zurück und wollte noch manchen Gewinn aus dieser Reise für unsere Arbeit ziehen. Die Fahrt nach Brasilien wurde in Wirklichkeit eine Weltreise, rund um den Globus, da er im Auftrag des Provinzialmini-sters über Hongkong zu den Mitbrüdern nach Taiwan reiste, um wichtige Gespräche mit ihnen zu führen. Er tat dies als treuer Bote und brüderlicher Diener. Mitbrüder in Hongkong und Taiwan waren beeindruckt von seinem Auftreten; ein Armer und Hilfloser, aber zugleich Froher.

Seine Erfahrung aus dieser Reise faßte Matthias einige Tage vor seinem Tod auf dem Aachener Katholikentag am 11. September zusammen. In Rio de Janeiro sei er in Versuchung gewesen, an Armen vorbeizuschauen, da er zu wenig Geld hatte, um ihnen etwas zu geben und sie dabei anschauen zu müssen. Doch dann habe er sie von Herzen angeschaut; ihre Armut und ihr Randdasein und es entstand ein Austausch von Menschlichkeit.Der Armut ins Gesicht schauen - das konnte er. Matthias führte ein versöhntes Leben mit sich selbst und seinem Geschick, mit den Menschen und ihren Verkehrungen, weil er für sein Leben mit Gott versöhnt war.

Wurde er einmal angegriffen oder sein Tun falsch gedeutet, so konnte er schweigen und liebevoll seinen Weg weitergehen.

Suchte er eine Antwort, so rang er um Verstehen. Matthias verstand sich als Bruder des kleinen Weges.

Er hatte ein Herz, das lebenslang von der Liebe Jesu her schlug. Es wird weiterschlagen in den Herzen, die er anrührte.

Foto: Marianne Schönberg