Nach Euskirchen zur Schule -aber wie?

Transportprobleme der Nachkriegszeit Peter Jakobs, Simmern

 

Im Mai 1946 brachte die Postbotin einen Brief in das Haus Nr. 17 in Niederbettingen. Absender Städtische Handelsschule Euskirchen, Empfänger Schüler Peter Jakobs. Kurzinhalt auf schlechtem Papier:

»Der im September 1944 durch Kriegsereignisse an unserer Schule unterbrochene Unterricht wird am 17. Mai 1946 um 8.00 Uhr wieder aufgenommen. Bitte finden Sie sich rechtzeitig ein.«

Das war schneller geschrieben als getan. Wie nach Euskirchen kommen? Eine Bahnverbindung gab es noch nicht, die Hauptstrecke Köln-Trier war bei Kali und Schmidtheim durch Sprengungen unterbrochen und die Wiederaufbauarbeiten machten kaum Fortschritte. Es fehlte an allem, an Inbetriebnahme der Zugverbindungen wagte zu der Zeit niemand zu denken. Zudem lag Euskirchen in der britischen Besatzungszone und Niederbettingen im französischen Bereich. In Mirbach war die Zonengrenze, mit einem Schlagbaum wie an einer richtigen Grenze und mit Beamten, die strenge Kontrollen durchführten. Ein Durchkommen ohne Passierschein war nicht möglich. Aber wie an diesen Schein kommen? In Daun bei der französischen Kommandantur winkte man ab, empfahl, in dieser Zone zur Schule zu gehen. Also das Vorhaben aufgeben? Weit gefehlt.

Nach war das Transportproblem nicht gelöst und der Tag des Schulbeginns rückte immer näher. Schließlich blieb als letzter Ausweg ein altes Wehrmachtsfahrrad mit schlechter Bereifung. Ein Besuch beim Wirtschaftsamt Hillesheim um einen Bezugschein für neue Reifen zu bekommen, hatte keinen Erfolg. Der Beamte, ein freundlicher Mensch, zeigte großes Mitgefühl, konnte aber außer einem Bezugschein für Schaumlöffel nichts anbieten. Damit war mir nicht gedient.

Also gings am 16. Mai 1946 mit dem notdürftig hergerichteten Rad ins Ungewisse. Schon in Hillesheim der erste Reifendefekt. Aber da war ja der alte Herr Mollers, ein Fahrradreparierer der helfen konnte und nach ein paar guten Worten tat er's auch. Weiter Richtung Euskirchen, unter Umgehung der Zonengrenze über Leudersdorf, denn dort sollte »ein Loch im Vorhang« sein. Einen Grenzbeamten bekam ich nicht zu sehen, war unversehends in der britischen Zone und erreichte bald Blankenheim an der Ahr ohne nennenswerte Vorkommnisse. Dort ging dem Hinterreifen die Luft aus. Kein Wunder bei den schlechten Straßen und dem schweren Holzkoffer auf dem Gepäckträger des alten Rades. Er barg neben noch nicht entnazifizierten Schulbürchern aus dem tausendjährigen Reich die Verpflegung für die erste Woche, so ein Bauernbrot aus »Kuhlens eigener Bäckerei«. Die Straßen waren durch die starke Belastung in den letzten Kriegsmonaten und während der Ardennenoffensive derart in Mitleidenschaft gezogen, daß sie den Namen »Straßen« nicht mehr verdienten, bestanden sie vielfach doch aus rohem Kies. Am Straßenrand konnte man die stummen Zeugen einer unrühmlichen Vergangenheit sehen, Panzer und Flakgeschütze neben abgewrackten Wehrmachts-Lkw's. Kein Wunder, daß über Tondorf und Holzmühlheim den morschen Reifen wieder stark zugesetzt wurde und mehrmals das Flickzeug herhalten mußte. Auf der Höhe des Eicherscheider Berges, ungefähr sechs Kilometer vor Münstereifel war die Fahrt nach einer erneuten Reifenpanne zu Ende. Die Dunkelheit brach herein.

Guter Rat war nun wirklich teuer. Was tun, wo über Nacht bleiben? Kurzentschlossen ging ich zu einem alleinliegenden Bauernhof und bat um Aufnahme für die Nacht in der Scheune. Nach einigem Hin Und Her wurde die Übernachtung gestattet, zuvor aber das Fahrrad im Flur des Hauses, also in Sicherheit deponiert. Großzügig überließen mir die Leute einen alten Wehrmachtsmantel als Decke. Die Nacht in der Scheune war sehr unruhig, standen doch im nahen Stall die Pferde. Ich hatte also Zeit zu überlegen, in welcher Richtung am nächsten Morgen die Fahrt fortgesetzt werden sollte. Schließlich entschied ich mich nach Instandsetzung des wieder einmal defekten Reifens für den beschwerlicheren Weg in die Stadt, er war kürzer. Ich erreichte Euskirchen erst gegen neun Uhr. Die Schüler waren schon seit einer Stunde versammelt, die Einteilung in der von Bomben stark zerstörten Schule war erfolgt, mit dem »Eifeler« hatte man nicht mehr gerechnet. Umso größer die Freude, daß er dann doch den noch reservierten Platz einnehmen konnte.

Mittags galt es, sich für die Woche ein Quartier zu suchen. Das gelang schließlich beim Hausmeister der Schule. Noch ein ungeahntes Problem tauchte auf, der Mangel an Nahrungsmitteln in der britischen Zone. Die mitgebrachten Lebensmittel waren in der Familie des Hauwirts schnell aufgegessen. Als 1/jähriger hat man ausgeprägten Appetit und der ließ sich nur leidlich stillen. Die Zuteilungen in der bevölkerungsstarken Zone waren sehr gering, noch nicht ein mal die kleinen Mengen gabs zu kaufen und im Frühjahr 1946 war keine einzige Kartoffel zu haben. Da war es ein Segen, als die Schulspeisung seitens der Britischen Besatzungsmacht einsetzte.

Noch oft wurde in den Jahren 1946 und 1947 die Fahrt nach Euskirchen und zurück mit dem Fahrrad gemacht, eine Wegstrecke von rund 55 km. Die Schwierigkeiten an der Zonengrenze blieben, bis mir die Stadtverwaltung Euskirchen auf Antrag einen Personalausweis für die britische Zone ausstellte und ich konnte wechselseitig Papiere vorzeigen. Erst im Herbst 1947 war die Bahnstrecke Köln-Trier wieder in Betrieb und das Fahrrad konnte in den wohlverdienten Ruhestand versetzt werden.

Was blieb, ist die Erinnerung an jene Zeit, die nicht einfach war. Was hatten wir alles vor Augen: Hunger und Elend, zerstörte Städte und Dörfer, keine Verkehrsverbindungen, Sorge um vermißte Angehörige und fürs Geld konnte man nichts kaufen. Ich denke trotzdem noch gern an diese Jahre, die mich geformt haben und ein Stück meiner Jugend waren. Manchmal träume ich von der Fahrt mit dem Rad, Niederbettingen - Euskirchen und zurück.