Verachtet mir die Kräutlein nicht!

Alois Mayer, Daun-Pützborn

 

Es weiß heute mittlerweile jeder, daß wir in einer übersatten und konsumfreudigen Wegwerfgesellschaft leben, die es den Bürgern sehr leicht macht, durch die Fülle ihres Angebotes und die verlockende Vielfalt von Gütern irgendetwas für oder gegen etwas zu finden. Doch es wächst auch die Angst vor einer überindustrialisierten, überchemisierten und damit unsicheren Zukunft.

Aber immer stärker wächst auch die Sehnsucht nach der Natur und deren Gaben. Gerade in den letzten Jahren spürt man deutlich, daß immer mehr Menschen sich überlieferter Werte bewußt werden und damit auch wieder die heilenden Kräfte der Pflanzen neu entdecken, die unsere Vorfahren bewußter hegten und pflegten. Es ist nicht eine falsch verstandene Nostalgie, die zunehmend jüngere Menschen zu naturbewußterem Verhalten motiviert, sondern eher das Erahnen und zur Gewißheit werdendes Vermuten, daß der uns umgebende Garten Gottes Gleiches und teilweise Besseres anzubieten hat, als menschliche, oft fragwürdige synthetische Retortenerzeugnisse. Unsere Vorfahren sammelten alles, was die Natur ihnen in ihrem jahreszeitlichen Rhythmus anbot, sie kannten die Pflanzen, wußten über deren Anwendung Bescheid und verstanden deren Kräfte sinnvoll anzuwenden. Vererbt von Eltern auf Kinder wurden seit Jahrhunderten die wichtigsten Rezepte und Naturheilmittel weitergegeben, erfahrenen »Kräuterweiblein« wurde tiefer Respekt entgegengebracht, auch wenn man ihnen teils mit gemischten Gefühlen begegnete ob ihrer »geheimen Kunst« und sie als »Kräuterhexen« bezeichnete. In Jahren, in denen die Natur sich allzu reich verschenkte, freute sich manch einer über den zusätzlichen Nebenverdienst, den er durch den Verkauf von Waldbeeren und verschiedenen Teekräutern erzielte. Händler und Organisationen taten sich auf, um den Vertrieb von Naturheilpflanzen zu leiten. So wohl auch jener Dauner Kaufmann, dessen Anzeigen in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts in verschiedenen Eifeler Regionalzeitungen zu finden waren.

An und für sich nichts besonderes, wenn uns das Wort »Dannessel« nicht stutzig machen würde, denn der jüngeren Generation wird essicherlich schwer fallen, diesen Begriff der richtigen Pflanze zuzuordnen, erst recht, wenn man diesen Namen weder in den gängigsten Pflanzenbestimmungsbüchern noch in Lexika findet.

Hinter dem Namen »Dannessel« (auch Daun oder Daunestel genannt) verbirgt sich die Pflanze »Hohlzahn« (Galeopsis), die mit zu den wertvollsten Kieselsäurepflanzen gehört. Auf kalkarmen, steinigen Böden, auf Äckern, Gärten und Wegen ist dieses Lippenblütergewächs häufig zu finden. Der vierkantige Stengel, behaart und verästelt, wird bis zu 30 cm hoch. An seinem Ende trägt er hübsche, verhältnismäßig große, blaßgelbe Blüten, die in Scheinquirlen angeordnet sind. Die Oberlippe der Krone ist gewölbt und fein gezähnt; die dreiteilige Unterlippe, stumpf und breit hat beiderseits einen hohlen Zahn, der Pflanze ihren Namen gab.

Äußerlich gleicht diese Pflanze stark ihrer Verwandten, der Taubnessel. So wird sie auch heute noch oft mit ihr verwechselt und im Volksmund auch als »falsche Taubnessel« bezeichnet. Wird dieses häufig vorkommende Wildkraut heute auch weniger beachtet als früher, so hat es dennoch eine bewegte, lange Geschichte. Schon vor fast 2000 Jahren wurde sie von Dioskuides als Heilpflanze beschrieben, die sehr wirksam gegen Lungenleiden sei. An diesem positiven Ruf hat sich bis heute nicht viel verändert. Besonders im letzten Jahrhundert bis in die neuere Zeit wurde sie als das Universalheilmittel gegen Auszehrung und Lungenkrankheiten angepriesen. Gesammelt und getrocknet wurde sie den verschiedensten Teemischungen beigefügt, die oft phantasievolle Namen trugen und häufig vom Verkäufer als »geheime, seltene und teure Krauter« in den Handel gebracht wurden. Als das Mittel schlechthin gegen die häufig vorkommende Lungenschwindsucht erzielten die Tees extrem hohe Preise. Erst als bekannt wurde, welches Kraut sich hinter diesem »ausländischen Wundermittel« verbarg, gingen Preise und Verkauf rapide zurück, brauchte man doch nur vor die Haustüre zu gehen, um es leicht und überall finden und sammeln zu können.

Die drei Hohlzahnarten, der gelbe (Galeopsis segetum), der stehende (G. tetrahit) und der bunte (G. speziosa) enthalten im blühenden Kraut große Mengen Kieselsäure, Gerbstoffe, Saponine und Spuren ätherischen Öls. Die Wirkung des Tees ist kräftigend, gewebefestigend und auswurffördernd. Angewandt werden sollte eine Teekur bei Lungenspitzenkatarrh, beginnender Tuberkulose, Husten, Heiserkeit, Asthma und Blutarmut.

Zur Teebereitung sammle man die ganze Pflanze, ohne Wurzel, während ihrer Blütezeit in den Monaten Juli bis September und trockne sie an luftigen Plätzen. Ein bis zwei Eßlöffel der zerkleinerten Pflanze werden in einer Tasse mit kochendem Wasser angesetzt und etwa zehn Minuten ziehen gelassen. Der Aufguß wird mit Honig oder Kandiszucker versüßt und schluckweise heiß getrunken. Zwei bis drei Tassen täglich über einen längeren Zeitraum getrunken, wirken sich sehr heilsam aus und sind manchen chemischen Mitteln vorzuziehen.