»Ja, wie hätten Sie's denn gern?«

Humoreske Skizzen aus dem »Hohen Haus« des Kreises

Nico Sastges, Daun

 

Ende März 1987. Der Kreistag ist zum Frühjahrsputz einberufen. Das »Hohe Haus« des Kreises ist wohlbestellt. Es ruht in Daun seit vierzig Jahren auf dem Fundament der CDU. Deren heute 23 Mandatsträger halten Keller und Erdgeschoß besetzt. Eine Treppe höher sind mittlerweile acht SPD-Genossen oppositionell etabliert. Von der Mansarde herab überwachen zeitgemäß zwei grüne Polit-Jünger die Szenerie. Den Dachfirst überragen die Antennen der Kreisverwaltung. Sie sind flankiert von weit geöffneten Radarschalen der Dezernenten und Ressortleiter, die den staatlich-kommunalen Chef der Administration des Hauses gegen Störsender abschirmen. Die Abschirmrelais der Kreisdeputierten sind pianissimo, fast lautlos eingestellt. Alle Bewohner der dreifarbig apart gestrichenen Appartements sind der Verständigung wegen zu ebener Erde versammelt. Im geschlossenen Karree. Jeder vermag jedem frontal oder etwas schräg in die Augen zu sehen. Diese Sitzordnung hat viele Vorzüge, die demokratischem Mit- oder Gegeneinander gut tun.

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Als Selbstverwaltungsgebilde ist der Kreistag eine nüchtern denkende Gesellschaft. Die Mitglieder erhalten ihr Mandat von Parteien und deren Wählern zugesprochen. Aber denen sind sie nicht verpflichtet. Sie »üben ihr Amt unentgeltlich nach freier, nur durch die Rücksicht auf das Gemeinwohl bestimmter Gewissensüberzeugungen aus; sie sind an Weisungen und Aufträge ihrer Wähler nicht gebunden.« So legt es § 23 der Kreisordnung fest. Was da wegweisend geschrieben steht, das ist weitgehend ad acta gelegt. Vermutlich ist § 23 heute wegen der Nähe der Landtagswahl außer Kraft gesetzt. Die Sprecher des Kreistages üben sich in der Deklamation parteipolitischer Infos. Mehr als nötig, mehr als gut tut. Beim Frühjahrsputz 1987 scheint die Sonne über Fraktions-Abgestimmtes. Die Besen bewegen sich uniform hü und hott. Außer der Reihe fegt keiner. Es sei fraktioneller Kontraststaub aufgewirbelt worden, schreibt die Tagespresse hinterher. Stimmt. Nur bei den einleitenden Formalien zieht die Staubwolke lässig in die gleiche Richtung zum offenen Fenster,

Zur Auflockerung treten die Mannschaften sinnbildlich zum Fußballspiel an. Drei Spieler fallen aus. Bedauerlich. Immer torgefährliche. Da liegt Spannung in der Luft. Es ist ausgerechnet das Entscheidungsspiel um eine gemeinwohltätige Gleichstellungsstelle. Sie soll vornehmlich Frauen und, falls gewünscht, auch Männern in besonderen Notlagen hilfsbereit zur Seite stehen. Auch Männern? Da melden linientreue Amateure Bedenken an. Profis juckt das nicht.

Vom Anpfiff an kicken die Mannschaften prinzipiell für eine Frau. Rot-grüne Stürmer kämpfen für eine hauptamtliche Sie. Die Mannschaft in schwarzen Hosen rackert sich für eine ehrenamtliche Nothelferin ab. Fitness zeichnet die Verteidiger beider Seiten aus. Doch Haken und Ösen, überflüssige Rangeleien, lassen die Torchancen schon im Mittelfeld im Sande verlaufen. Gerät der Ball zum Torschuß auf den Fuß eines Stürmers, schnellt die Abseitsfahne des Linienrichters hoch. Entscheidungsspiele haben halt eigene Dynamik. Es will und will kein Tor fallen. Die Trainer sind beim Kabinengang zur Halbzeit ratlos.

Die Ausschnitte aus der Kreistagssitzung zeigen Landrat Karl-Adolf Orth (stehend), Oberamtsrat Arnold Arnoldy, Kreisamtmann Helmut Klassmann und Dezernent Herbert Schneiders, rechts am Bildrand den derzeitigen CDU-Fraktionssprecher Hans-Peter Stölben und (mit dem Rücken zur Kamera) den 1987 noch amtierenden Fraktionssprecher Peter Wülferath.

Im Blick auf die acht bis zehn Augenpaare um das Spielfeld, die vertretungsweise einer Zuschauerkulisse von 6 000 bis  8 000 Fans aus dem Kreisgebiet entsprechen, verhindert der Respekt der Mannschaften voreinander den Führungstreffer. In der 89. Minute hält das Publikum den Atem an. Aus heiterem Himmel ein Bombenschuß eines frisch eingewechselten Außenläufers. Der Schiri, auf Ballhöhe im Strafraum, duckt den Kopf, blickt zum Linienrichter -Aus? - Nein - haarscharf, das ist das Knappste was es gibt, am Pfosten vorbei. Ball im Aus. Abpfiff.

»Ja, wie hätten Sie's denn gern?«, fragt der Schiedsrichter beim erneuten Anpfiff. Doch die Verlängerung läßt die Tormänner weiter gähnen. Die Zuschauer sind sauer. Erst der Pfiff zum Elfmeterschießen bringt Leben ins Gehäuse. Schuß um Schuß volle Treffer für die Frau Gleichstellerin. Doch nur acht Punkte für deren hauptamtliche Besoldung. Aber zwanzig Punkte für ehrenamtliche Arbeit auf Probezeit (Bewährung eingeschlossen). Dem Schiedsrichter steht die Erlösung im Gesicht. Er dankt für (fast) faires Spiel. Pfeifen will dosiert und gekonnt sein ...

Nachkarten der Trainer nach Entscheidungsspielen ist üblich wie das Salz in der Suppe. Ein bißchen versalzen war sie schon. Darob regte sich Lust zur Revanche. Die erfüllt sich postwendend im Plauderton um eine im Erdgeschoß verfaßte Resolution zur Volkszählung, die vor der Tür steht. Konkret, gegen Boykottaufrufe aus grüner Ecke. Sogar den Karfreitag wollen Boykotteure zur Demo gegen die Volkszählung nutzen. Dagegen sträubt sich gesunder Menschenverstand, sind sich (außer den ahnungslosen Mansardenbewohnern) alle einig. Aber die Leute von der ersten Etage finden einige Formulierungen der Resolution überspitzt. Sie halten die Volkszählung zwar für unbedenklich, doch nicht für »völlig« unbedenklich, wie geschrieben steht. Sie bezweifeln auch, daß diese von »entscheidender« Bedeutung sei. Ihre Bitte an die Verfasser, die Betonungen redaktionell abzuändern, gemeint, zu streichen, hält der Erdgeschoßsprecher »nach dieser Aussprache« für so gravierend, daß seine Fraktion die Resolution lieber im Alleingang verabschiedet.

Der Chronist schluckt. Das erscheint ihm kurios, weil Resolutionen als Willensbekundungen bei größtmöglicher Zustimmung an öffentlicher Wirkungskraft stärker gewinnen als das Beharren auf doppelmopsigem Beiwerk wettmachen kann. Wenn etwas unbedenklich und bedeutsam ist, ist gesagt was ist. Eine halbe Stunde stilistischer Floskeln zeitigt lediglich einige aufhellende' Strahlen über den Gesichtern der Diskutierenden, die rundum von prinzipiell unbedenklichem Bedeutungsbewußtsein gekennzeichnet sind. Die staubige Atmosphäre des Hausputzes sorgt ohnehin für dicke Luft.

Die SPD-Fraktion mit Fraktionssprecher ,Wolfgang Jenssen, daneben SPD-Kreisvorsitzender Karl-Heinz Berlingen.

Die CDU-Fraktion des Kreistages mit Frau Karin Eiden aus Gerolstein

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Für ein entspannendes Nickerchen nach dem Mittagessen ist keine Zeit. Zu drückend lasten de 800 Gramm schweren Vorberichte, Anträge und Erläuterungen zur Sitzung auf der Seele jedes einzelnen Kreistagsmitgliedes. Immerhin hat die Verwaltung rund 150 maschinenbeschriebene DIN A4-Seiten zum Studium zur Hand gegeben und sich redlich bemüht, einige Dutzend Fragen der Mandatsträger aktenkundig zu beantworten. Da ist ersichtlich, daß hier demokratische Spielregeln funktionieren und auch, was diese an gutem Willen zum Wachstum des Papierkonsums dem bürokratischen Vollzug abverlangen.

Demokratiebewußte Bürger müßten eigentlich das Schimpfen über Bürokratie an die Beamten und Vollstrecker der Selbstverwaltung abtreten. Ein vager Gedanke, den der Chronist bis zum abendlichen Imbiß nicht los wird. Denn der Themenkatalog von der Beteiligung des Kreises an der (geplanten) Regionalen Kabel-Service-Gesellschaft samt Übernahme einer Ausfallbürgschaft, ferner der erwünschten Fortschreibung des allerseits begrüßten Maarpro-grammes zum Landschaftsschutz sowie die Aussprache über das abfallwirtschaftliche Konzept des Kreises mit vorsorglichem Anschluß an die geplante Müllverwertungsgesellschaft des Großraumes Koblenz; all das wird über dieses Jahrbuch hinaus diskutierfreudige Gemüter weiterhin an- oder aufregen.

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Daß der Kreistag insgesamt seine Kontrollfunktion gegenüber der Verwaltung ernsthaft ausübt, machen Anfragen, Wünsche und Anregungen deutlich, deren Beantwortung und Auswertung durch des Landrats zuständige Sachbearbeiter und ehrenamtlich tätige Experten etliche Stunden Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Der Imbiß zu vorgerückter Stunde ist redlich verdient.

Was den Beobachter des Kreistages nachdenklich stimmt, ist ein hoher Kult an politischer Prinzipienreiterei der Fraktionen. Kritik, sagt der Volksmund, sei die Würze demokratischer Urteilsbildung. Demnach müßten Gewürze der Veredlung dienen. Tun sie auch. Kluge Hausfrauen wissen das und verwerten solche vorsichtig. Die Debatten im Kreistag aber waren mit Gewürzen weniger an- als zugerichtet, um den Geschmack an gemeinsamer Kost zu verderben. Dabei ließ die Tagesordnung kommunale Hausmannskost erwarten, die - nostalgisch betrachtet - in den 50er und 60er Jahren ohne viel Federlesens zum gemeinschaftlich genießbaren Menü zubereitet worden wäre. Heute scheint es schwieriger, die Abfälle des Wohlstandes los zu werden. So ändern sich die Zeiten.

In den Wiederaufbaujahren 1950/60 bedurfte es im Kreistag und allen anderen kommunalen Gremien des Zusammenrückens. Da halfen notgedrungen Witz und Humor über parteipolitische Ressentiments hinweg. Die Kreistage jener entschwundenen Jahre zielten auf das Miteinander, um voran zu kommen. Und wenn nach dem Abendimbiß sangesfrohe Mandatsträger nachkarteten und sich eine schwarz-rot-gelbe Koalition zum Chor vereinte, dann wurde hausgemachte, selbstkritische Satire serviert. Da ließ das verschmitzte Wort eines Kreisdeputierten aufhorchen, der spontan meinte: »Das ist die wahre Demokratie, einer dirigiert und alle singen!«

Solch groteske Stilblüte lockerte auf, beruhigte die tagsüber erhitzten Köpfe und animierte mit erkennbarer Ironie zum Gemeinsinn von Mensch zu Mensch, eben zum kommunalen Miteinander. In der parteipolitisch aufgeladenen Atmosphäre des Frühjahrs-Kreistages 1987 war von sowas nicht viel zu spüren. Zu intensiv wurden die Bissigkeiten des draußen angelaufenen Landtagswahlkampfes in die - so behaupten ständige Beobachter - ansonsten gute Stube des Kreises getragen. »Vielleicht«, so meinte mein Nachbar Mattes auf dem Heimweg, »dauert deshalb heute manches so lange viel länger als früher«. Ob Mattes recht hat?