Zeitbilder der Kreisgeschichte

Gemeinde in der Diaspora

Hans-Martin Stüber, Gerolstein

 

»Diaspora« - was ist das?

»Ich wußte gar nicht, daß ihr Protestanten auch betet!« sagte vor etwa 35 Jahren eine Bäuerin aus der Eifel zu meiner Mutter. Sie lagen beide im Krankenhaus. Unser Pfarrer hatte meine Mutter - »Stammkundin« auf der »Inneren« -besucht und mit ihr gebetet.

Irgendwie waren wir verblüfft und auch etwas empört über diese Unkenntnis und Vorurteile. Als frischgebackener Theologiestudent machte ich mir so meine Gedanken über die Lage der evangelischen Christen in einer rein katholischen Gegend. Gewiß, zur Minderheit gehörte ich auch an unserer Schule. Von 27 Abiturienten waren nur drei evangelisch, von den vierundzwanzig katholischen Klassenkameraden wollten sechs Priester werden. Mit diesen sechs verstand ich mich besser als mit manchem anderen der Vierundzwanzig, die mich zuweilen anschrien: »Du blöder Idiot! Wann wirst du endlich einsehen, wer Recht hat!?« Seither schlug mein Herz für die Diaspora. Meine praktische Ausbildung hatte ich in einer Diasporagemeinde an der Ahr. Die erste Stelle sollte auch eine Diasporagemeinde sein. Es kam dann anders.

»Diaspora« - was ist das eigentlich? Dieses griechische Wort meint »Zerstreuung«, also die Existenz einer kleinen Minderheit unter einer erdrückenden Mehrheit. Die Folge ist in aller Regel, daß die Minderheit eisern zusammenhält. Dieser Zusammenhalt hat zwei Zielrichtungen: Stärkung der eigenen Glaubensgenossen gegen alle Anfechtungen und Verhinderung eines Aufgehens in der Mehrheit.

Das Leben in der Diaspora verlangt immer die ganze Frau und den ganzen Mann, den vollen persönlichen Einsatz für die eigene Kirche und den Glauben, außerdem eine große Leidensbereitschaft. »Gemeinde in der Diaspora« ist meist eine »geschlossene Gesellschaft«, in der jeder jeden kennt (manchmal auch beobachtet) und unterstützt.

Pfarrer Best, der erste Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde in Gerolstein, beklagte noch zu Beginn dieses Jahrhunderts die Schändung des evangelischen Teils der Friedhöfe in Densborn, Schwirzheim und Glaadt. Dies wirft ein Schlaglicht auf die Probleme der evangelischen Christen in der Diaspora nach dem Neuanfang im vergangenen Jahrhundert.

Evangelische Diaspora in der Eifel.

Zunächst hatte es so ausgesehen, als ob die zu Luxemburg gehörende Westeifel lutherisch würde. Durch die Manderscheider Grafen kamen lutherische Prediger nach Ahütte, Brück, Dockweiler, Dreis, Hillesheim, Kerpen, Kronenburg, Niederbettingen, Niederehe, Ormont, Sarresdorf und Üxheim. An dieser Entwicklung hatte sicherlich auch der Kölner Kurfürst Hermann von Wied Anteil.

1592 starb mit Graf Dietrich VI. der letzte evangelische Manderscheider. Seine evangelische Schwester Katharina heiratete den streng katholischen Grafen Philipp von der Mark. Dieser trat die Nachfolge der Manderscheider an, versprach aber seinen evangelischen Untertanen, sie nicht an ihrer Religionsausübung zu hindern. Bei diesem Versprechen blieb es. Die Vulkaneifel wurde wieder »protestantenfrei«, weil der Landesherr die Religion bestimmte und mit der »Ketzerei« nichts im Sinn hatte. Erst als die Eitel Anfang des 19. Jahrhunderts zu Preußen kam, kehrten durch entsprechende Personalpolitik der preußischen Behörden mit den Beamten wieder evangelische Christen in diese Region zurück.

So wurde 1829 die evangelische Gemeinde in Prüm gegründet, die lange Zeit für Gerolstein zuständig war. Daun wurde nach der Gründung der evangelischen Gemeinde zu Wirtlich 1852 von dort aus betreut. Der evangelische Pfarrer aus Wittlich hielt in Gerolstein Gottesdienste. Im Jahr 1900 wurde die »Evangelische Kirchengemeinde Gerolstein-Jünkerath« gegründet und mit Daun verbunden, das erst 1962 selbständig wurde. Durch die Kriegs- und Nachkriegszeit nahm zunächst die Zahl der evangelischen Christen hier ab. Aber der Flüchtlingsstrom aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten sorgte für ein kräftiges Wachstum.

Rentner und Pensionäre genießen heute ihren Lebensabend im gemäßigten Reizklima des Mittelgebirges und ließen die Gemeindegliederzahl seit Herbst 1962 von 1 461 auf rund 2500 im Sommer 1987 ansteigen. An der räumlichen Ausdehnung der Gemeinde hat sich freilich nichts geändert. Sie umfaßt nach wie vor rund 483 km2 und 76 Orte oder Ortsteile. Dadurch ergeben sich neue und zugleich altbekannte Probleme.

Die Minderheit muß bleiben!

Wenn sich auch noch in den »goldenen Fünfzigern« katholische Christen aus Unkenntnis darüber wunderten, daß die Evangelischen »auch beten«, so bahnte sich eine Wandlung im Verhältnis der beiden Konfessionen zueinander schon im »Dritten Reich« an. Bernhard Wiebel (in Gerolstein Pfarrer von 1934-1951) berichtet von einem guton Zusammenhalt mit den katholischen Amtsbrüdern in der Zeit des NAZI-Terrors.

So hatte er als Pfarrer der »Bekennenden Kirche« von Einsamkeit mitten unter den Protestanten bedroht dort Rückhalt gefunden. Die

damals in Deutschland gegründete »Una-Sancta-Bewegung« war gleichsam Wegbereiterin der mannigfachen ökumenischen Verbindungen und Aktivitäten von heute. Evangelische Christen sind hierzulande keinem äußeren Druck mehr ausgesetzt. Eine gewisse Fremdheit und gegenseitige Unkenntnis aber ist geblieben.

Die Probleme in der Diaspora haben sich grundlegend geändert. Schwindender Glaube an Jesus Christus, mangelndes »Diaspora-Bewußtsein« evangelischer Christen und ein überall verbreiteter Hang zur Gleichmacherei haben die Konturen verschwimmen lassen. Es wird wieder gesagt: »Wir glauben ja doch alle an einen Herrgott!« Mit dieser nicht zu bestreitenden Tatsache lassen sich aber die bestehenden und in Jahrhunderten gewachsenen Unterschiede nicht von heute auf morgen beseitigen oder verwischen.

Da der äußere Druck fehlt, läßt der innere Zusammenhalt der Gemeinde nach. Es kennt nicht mehr jede(r) jede(n). Auch fehlt bei vielen das Bewußtsein, sich selbst für seine Kirche einsetzen zu müssen. Und schließlich: Um »nicht aufzufallen«, passen sich evangelische Christen ohne Not ihrer katholischen Umgebung an. Es tröstet da nur wenig, daß sich ähnliche Bestrebungen auch unter katholischen Christen zeigen. Glaubenskriege sollte es freilich auch in der Eifel nicht mehr geben. Andererseits läßt sich die schmerzhafte Kirchenspaltung nicht im »Schnellverfahren« aus der Welt räumen.

Wir sind miteinander auf dem Weg zum Herrn. Dieses Miteinander dürfen evangelische und katholische Christen nicht mehr aufs Spiel setzen, schon aus Liebe zu den vielen Gemeindegliedern, die mittlerweile in einer »konfessionverschiedenen Ehe« leben. Hier gibt es wichtige gemeinsame Aufgaben in der Seelsorge, denen sich die Pfarrer beider Konfessionen gemeinsam widmen müssen, soll nicht die Zahl der Glaubens- und Kirchenmüden unter uns wachsen. Im übrigen ist der Standpunkt der Minderheit immer eine Anfrage an den der Mehrheit und umgekehrt. Das gilt auch für die katholische Diaspora in rein evangelischen Gegenden.

Nur wer treu und zugleich ohne lieblosen Fanatismus zur eigenen Sache steht, kann Schritte in Richtung auf die Schwester und den Bruder in der anderen Kirche tun! Toleranz ist die Fähigkeit, den anderen in seinem Anderssein anzuerkennen und zu tragen. Nur so, im gemeinsamen Aushalten des Trennungschmerzes und der gemeinsamen Arbeit überall da, wo es eben möglich ist, hat unser Miteinander eine Verheißung. Eine falsche »Toleranz«, die die vorhandenen Unterschiede nicht wahrhaben will, hat mit der vom Herrn der Kirche gebotenen Bruderliebe nichts zu tun!

Übrigens, bei Fortdauer der gegenwärtigen Entwicklung in unserer Gesellschaft müssen wir damit rechnen, daß sich katholische und evangelische Christen gemeinsam in einer viel schlimmeren Diaspora vorfinden: In der Zerstreuung der ganz Wenigen unter einer großen Zahl von Glaubenslosen und Gleichgültigen.

Jesus Christus hat nie einen Zweifel daran gelassen, daß am Ende der Zeiten die Zahl der Christen verschwindend gering sein wird. Ist der Gedanke so undenkbar, daß sich eines Tages Christen beider Konfessionen zusammenfinden im gemeinsamen Bestreben, Menschen für Jesus Christus zu gewinnen?