Erinnerungen an jüdische Mitbürger

Cornelia Gerhards, Gerolstein

 

Ein Foto von 1935 habe ich in Erinnerung, es zeigt die Mädchen der Volksschule Gerolstein, Katholiken, Protestanten, Juden. Konfessionelle Spannungen kannte man nicht, bis der antisemitische Terror das Band gegenseitigen Vertrauens in der kleinstädtischen Gemeinschaft zerstörte. Die Erinnerung an schlimme Jahre führte einen Katholiken, einen Protestanten und einen Juden nach 1980 zum »ökumenischen Briefwechsel« zusammen. Superintendent a.D. Bernhard Wiebel, der von 1934 bis 1951 in der evangelischen Gemeinde Gerolstein tätig war und in Kaiserswerth seinen Lebensabend verbringt, ließ Pater Josef Böffgen in Gerolstein an der Last der Erinnerung teilhaben.

Bernhard Wiebel schrieb:

In dem Haus, das an den Kirchplatz grenzt, wohnten die Familien Mansbach und Levi. Dieser Platz zieht sich ganz um die evangelische Kirche herum, die sich so erbaut in dem wilhelminisch-byzantinischen Stil der Zeit vor 1914 -1918, prächtig darstellen kann. Eines Tages sah ich auf dem weiten Platz ein Kind allein spielen; Siegfried Mansbach war aus der Volksschule ausgeschlossen. Der Junge konnte sich, ungesehen von Nachbarn, ungestört hinter der Kirche bewegen. Die Messnerin der Kirche, die nebenan wohnte, lud ihn oft ein, ihr zu helfen. Zusammen läuteten sie die Glocken, putzten den Kirchenraum, schmückten den Altar und richteten alles gut her. Die Messnerin, eine Diakonisse, tat noch mehr. Durch die Hinterfenster des Hauses der jüdischen Familien reichte sie Monat für Monat ihre eigenen Lebensmittelkarten herein. Darüber hat sie nie gesprochen. Durch dieselben Fenster aber wurden wir auch beschenkt. An einem dunklen Abend - im Kriege gab es nur Verdunkelung um die Häuser - reichte Vater Mansbach, der Schwiegersohn der alten Levis, seinen ganzen Vorrat an vollen Weinflaschen auf den Platz heraus. Die Familien wußten, daß sie am nächsten Tage deportiert werden sollten. Die Übergabe des Weins geschah unter Worten, in denen sich die tiefste Verachtung der Verbannten gegenüber ihren Vertreibern ausdrückte.

Es war kein Wein in der ganzen Eifel aufzutreiben, am wenigsten für kirchlichen Bedarf. So kam es, daß in den Abendmahlsfeiern der evangelischen Christen in den kommenden Jahren nur der Wein der Juden getrunken wurde. Niemand wußte davon außer dem, der Flasche für Flasche aus dem dunklen Hinterfenster am Kirchplatz entgegengenommen hatte. Die Stunde der Vertreibung war gekommen. Ich trat in das Haus der Levis und Manbachs. Die Familien empfingen mich gefaßt und stille. Mit dem Gepäck auf dem Fußboden und an den Körpern warteten sie auf den Befehl zum Auszug. Dem Polizisten hatte der Hausvater die Kognakflasche auf den Tisch in die Küche gestellt.

Wir waren allein, die Juden, der Christ. Wir kannten uns, wußten voneinander, wußten, was Hitler den Juden, was den Christen zugedacht hatte. Wir umarmten uns schweigend. Ich aber wollte nicht stumm bleiben. Diese Vorstellung beschäftigt mich noch heute, nach bald vierzig Jahren.

Was sollte und konnte ich aussprechen, welche Worte konnten hier gelten? Es fiel mir ein, ich könnte segnen! Aber wie, mit welchen Worten? Da spürte ich Hemmung, darf ich hier den Namen Jesus nennen? Ich gab dem Drang nach, aus Liebe zu reden und sprach: »Es segne euch Gott, der Gott Abrahams und Isaaks und Jakobs.« Ich muß gestehen, daß mir das als eine Art Verzicht erschien, jedoch gerechtfertigt durch die Liebe zu den zum Tode Verbannten.

Sichtlich glücklich waren die Freunde.

Heute wird diese Geschichte wieder lebendig und läßt mir keine Ruhe. Darum muß ich sie aufschreiben. Ich frage mich: Haben die Freunde von mir, dem Nachbarn, dem Pfarrer, vielleicht doch das Segenswort erwartet, daß sie mir, dem Christen selbstverständlich zuschreiben konnten oder gar mußten? Wußte ich überhaupt, wie Juden segnen? Ahnten sie möglicherweise meine »Verstellung«? Sicherlich wollte ich nicht als der »überlegene« Christ von oben herab etwas Gutes tun. Das schändliche Verhalten mancher Christen den Juden gegenüber wollte ich nicht verstecken; ich wollte mich - das sehe ich heute ein - zu ihnen »erniedrigen«, sie dort aufsuchen, wo sie sind.

Und doch - habe ich nicht mich und die Freunde getäuscht? Mir ist nicht wohl, wenn ich heute daran denke. Wenn schon gesegnet werden sollte, wäre es nicht wahrhaftiger gewesen, ich hätte Levi oder Mansbach gebeten, mich in den Segen des Bundes mit Israel einzubeziehen?

Ich hätte ihnen nachfolgen können, bis dahin, wo man sie umbrachte. Was hat mich gehindert? Ich selbst stand mir im Wege. Wie klug bin ich geworden nach so vielen Jahren! Aus der Feder des Juden Sebald Levy, der seit seiner Flucht aus Deutschland im Jahre 1938 in Paraguay lebt, erfuhr Pater Böffgen nicht minder Erschütterndes. Nach dem Tod Pater Böffgens hielt ich, seine Haushälterin, den brieflichen Kontakt mit Bernhard Wiebel und Sebald Levy aufrecht, das Geschehen jener Zeit selbst noch vor Augen und in Erinnerung. Im Jahre 1986 schrieb Levy . . .

»als mein Vater sich 1936 infolge des nationalsozialistischen Terrors gezwungen sah, sein Geschäftshaus in Gerolstein, in der Bahnhofsstraße zu verkaufen, hatten meine Angehörigen, die Familien Levy und Mannsbach das Glück, Nachbarn der Erlöserkirche zu werden. Diese Freundschaft brachte in Notjahren Hilfe und Trost. Dabei gedenke ich besonders der Messnerin, Schwester Edmee, die sich vor allem meines Neffen Siegfried annahm und gar Lebensmittelkarten - sich selbst gefährdend -meinen Angehörigen zusteckte. Leider kann ich keinen Dank mehr sagen, eine Fliegerbombe machte ihrem aufopferungsvollen Leben ein Ende.

Von Cornelia Gerhards erhielt ich vor Jahren eine Kopie eines Schreibens . . . Nach vielen Jahren - oder - Wo Gott schweigt, schulden wir ihm nichts (Isaak B. Singer). Der Inhalt dieses Briefes hat mich tief bewegt. Sooft ich das lese, bin ich zu Tränen gerührt und das ist das eigenartige, meine Tränen und Ihre trefflichen Worte, Ihr Beistand beim Abtransport meiner teuren Angehörigen spenden mir stets Trost und Erleichterung. In einer Glasvitrine in unserem Wohnzimmer befindet sich ein Teller mit dem Bild der Erlöserkirche in Gerolstein, was mir täglich vor Augen führt, wie kostbar und trostvoll für meine Angehörigen die Nachbarschaft mit dieser Kirche, mit Pfarrer Wiebel und Schwester Edmee war.«

Levy schließt mit einem Dank an Pater Böffgen für alles Liebe, das er seiner Familie tat.

Pfarrer Wiebel erhält ebenfalls Kenntnis des Briefes und ist betroffen. In einem Brief an mich sagt er ... »ich bin tief bewegt durch dies Zeichen der Liebe, des Glaubens, der Hoffnung.«

Gute Gefühle, der Wille zum Miteinander, das möge bleiben, heute, morgen, in den kommenden Generationen.