Bläss und Hans

Erinnerungen an zwei Gefährtinnen

Franz Josef Ferber, Daun

 

Ein Leben lang waren sie unsere Wegbegleiter, größtenteils lebten wir nicht nur mit ihnen, sondern auch von ihnen. Die Rede ist von unseren Haustieren, namentlich von den Rindern. Zwischen ihnen und uns Menschen bestand eine schicksalhafte Verbindung. Wie ausgeprägt diese war, das soll die folgende Erzählung verdeutlichen, erlebt in einer Zeit, in der auch den Menschen unserer Heimat die göttlichen Schöpfungswerke noch bewußter waren.

Als ich noch ein kleiner Junge war, besaßen wir eine einzige Kuh, die Bläss. Sie wurde so genannt, weil ihre Stirn weißbehaart war. Ihre Hörner waren gleichmäßig krumm nach unten gebogen. Es sah so aus, als drohten sie dem Tier in die Backenknochen hineinzuwachsen. Eines guten Morgens wachte ich auf, da hieß es, die Bläss habe ein Kälbchen bekommen. Meine eindringlichen Fragen, wie dies geschehen sei, wurden alle ausweichend beantwortet. Ich wußte damit nichts anzufangen, aber um so mehr mit dem kleinen, braunen Kalb. Es hatte sich schon kurz nach seiner Geburt eigenmächtig auf die noch etwas wackeligen Beine gestellt und sah mich mit seinen großen Augen neugierig an, gerade so, als wollte es bereits in seiner ersten Lebensstunde Freundschaft mit mir schließen. Sein Fell war noch ganz naß. Hin und wieder reckte es den kleinen Kopf etwas unbeholfen nach dem schweren Euter seiner besorgten Mutter. Beim ersten Trinken bedurfte es des menschlichen Beistandes; das Kalb mußte an die gespreizten Zitzen der Kuhmutter herangeführt werden. Sie stand daneben und beleckte ihr Kind. Am selben Tage bekam das Neugeborene einen Namen: Hans. Daß man ihm, dem Kuhkalb, einen männlichen Namen gab, konnte ich nicht verstehen. Das Kalb wuchs mit uns Kindern heran, und ich hätte mir später keinen anderen Namen mehr vorstellen können. Es war und blieb unsere Hans.

Nach Jahren wurde die Bläss verkauft. Sie war alt geworden, konnte nicht mehr kalben und deshalb keine Milch mehr geben. Der Metzger holte sie ab. Das war für mich ein trauriger Tag. Ich weinte unaufhörlich, es half nichts, ich mußte mich von dem liebgewonnenen Tier trennen. Der Schmerz war arg. Er wurde durch die Gewißheit etwas gemildert, daß mir »die Hans« verblieben war. Und sie hatte sich mehr und mehr zu ihrem Vorteil entwickelt, war eine prächtige Kuh geworden, die jedes Jahr ein Kalb zur Welt brachte, einmal sogar zwei Kälber auf einen Schlag, ein Stierkalb und ein Kuhkalb.

Die Hans war, wie die Leute sagten, die schönste Kuh des Dorfes. Beinahe wäre ihr das zum Verhängnis geworden. Sie war nämlich so kräftig, daß sich nach dem Krieg die französischen Besatzungssoldaten für sie interessierten. Unten im Dorf, an der Straßenkreuzung beim Dukkespäsch, mußte sie, zusammen mit anderem Rindvieh, zur Musterung vorgeführt werden. Aber die Musjöhs aus Frankreich nahmen sie nicht mit. Das behagte einigen Bauern ganz und gar nicht, wähnten sie dadurch - zu Recht übrigens - ihre Tiere abgabegefährdeter. Nicht, daß die wohlgenährte gepflegte Hans den fremden Herren nicht gut genug gewesen wäre, nein, sie vermochten es einer geplagten Kriegerwitwe nicht anzutun, ihr und ihren kleinen Kindern die wichtigste Lebensader abzuschneiden. Wie bewahrheitete sich doch das alte Eifeler Sprichwort: »Önn Kooh deckt de Oarmot zoh«! Soviel Verständnis hatte man zu jener Zeit bei deutschen Beschlagnahmern nicht alle Tage gefunden. Sie, die von den Franzosen zum Requirieren des Viehes in die Dörfer geschickt wurden, machten von ihrer Amtsgewalt nicht immer den rechten Gebrauch. Dann und wann gebärdeten sie sich recht wichtigtuerisch, vor allem gegenüber Frauen, die des Schutzes ihrer Männer entbehrten.

Anfang der 50er Jahre war auch für die Hans der Tag gekommen, an dem sie ihre Schuldigkeit getan hatte. Sie mußte das Schicksal ihrer Mutter, der Bläss, teilen. Das treue Tier war alt, unfruchtbar und damit unrentabel geworden. Außerdem war ihr »Typ«, gemeint ist die Glanrasse, nicht mehr gefragt. Schließlich begannen sich mittlerweile die Traktoren und das rotbunte Niederungsvieh überall breitzumachen und die einstmals vielbegehrten Glanrinder, die rentabelsten Zugtiere, die der Eifelbauer je besaß, zu verdrängen. Das vielgerühmte Gnadenbrot, das anderen Haustieren wie Katzen und Hunden gewährt wurde, war Kühen nicht zugedacht. Also machte man mit der Hans nicht viel Federlesens, der Metzger holte sie ab. Als ich aus der Schule kam, war der Stall leer. Ich wünschte, die Hans sei auf der Weide. Die Ernüchterung folgte bald und ich war traurig. Mit dem Gedanken, das treue Tier nie wiederzusehen, wollte ich mich nicht recht abfinden. Kommen und Gehen, Freude und Trauer; es ist schwer, beides recht einzuordnen ...