Gerolsteiner Priester in Chile

Erinnerungen an Pater Alois Pickro

Pater Jose Kühl, Santiago

 

Schon als kleiner Schulbub war mir Chile ein Begriff. Mein Vater, ein fortschrittlicher Landwirt, streute jedes Jahr Kunstdünger, Chilesalpeter, auf die Felder, um das tägliche Brot für sechs Kinder zu sichern. Damals hätte ich mir im Traume nicht vorgestellt, daß Chile einmal meine zweite Heimat werden sollte. Erst recht nicht, daß vier aus Gerolstein dort als Priester amtieren würden. Hier will ich ein wenig über die Tätigkeit berichten und fange mit dem Verstorbenen an.

ALOIS PICKRO geboren im Stadtteil Sarresdorf, studierte auf dem Gymnasium in Prüm. Da er aus einer christlichen Familie stammte, regte sich in ihm der Gedanke, Priester zu werden. In den dreißiger Jahren war das nicht so leicht. Ganz anders als heute gab es Überschuß an Priestern und Seminaristen. Junge Kapläne mußten warten, bis eine Pfarrei frei wurde und standen auf der Warteliste des Priesterseminars. Bei der Auswahl hatten die Abiturienten der altsprachigen Gymnasien den Vorzug; die "Schmalspurlateiner« waren im Nachteil. Junge Kapläne wurden in die Diaspora geschickt. Einige Bischöfe machten Priesteramtkandidaten darauf aufmerksam, daß Lateinamerika ein interessantes Arbeitsfeld wäre. Alois Pickro sah darin einen Wink der Vorsehung. Zwei Schritte waren für seine Zukunft entscheidend: Er begann das Studium der Philosophie im Collegium Clementinum in Paderborn; er nahm Kontakt auf mit dem Bischof von Puerto Montt in Südchile. Die Antwort des Bischofs Ramön Munita ließ nicht auf sich warten: »Komm sofort, in Santiago, an der Katholischen Universität kannst Du Dein Studium beenden.« Dieses Drängen des Bischofs war ein Glück, denn wenige Wochen später hätte Alois das Ausreisevisum am Vorabend des Weltkrieges nicht mehr bekommen; es war Juli 1938. Allerheiligen 1941 wurde Alois Pickro zum Priester geweiht.

 

Nun erwartete ihn eine vielfältige Anzahl von Aufgaben; Privatsekretär des Bischofs, Subdirektor der katholischen Schule, Kaplan in der Kathedrale, Jugend- und Männerseelsorge. Etwas später wurde er zum Pfarrer der neuerrichteten Christ-König-Pfarrei ernannt. Nach sechsjähriger Tätigkeit in der Diözesanstadt fing ein neues Kapitel für Alois an. Der Bischof ernannte ihn zum Pfarrer und Dechant in Maullin. Diese Kleinstadt mit ländlichem Anstrich liegt 75 km nordwestlich von Puerto Montt entfernt, an der breiten Mündung desFlusses gleichen Namens am Pazifik. Der Ort wurde 1560 von einem spanischen Konkistator, Don Pedro Ojeda Asenjo, als Fort gegen die einheimischen Mapuchen erbaut. Er überlebte trotz Rückschlägen durch Indianerüberfälle, Erdbeben und Seuchen. Maullin wurde mit der Zeit ein bedeutender Ankerplatz für Schiffe, die aus der Insel Chiloe kamen. Die Reisenden zogen von dort auf dem Landweg weiter nach Osorno und Valdivia. Im Laufe der Jahre machten sogar Schiffe aus Europa in Maullin Halt, das aber wurde radikal anders durch die Eröffnung des Panama-Kanals, denn so war der Seeweg von Europa zum Pazifik viel kürzer und ungefährlicher im Vergleich mit dem unwirtlichen Weg durch das Kap Hoorn.

Im Stadtbezirk Maullin leben ca. 4.000 Menschen und in den umliegenden Dörfern weitere 9.000. Die Einwohner widmen sich der Landwirtschaft (Kartoffeln, Viehzucht). Eine andere Einnahmequelle, die heute an Bedeutung gewinnt, ist die Fischerei und die Ernte von Algen, die heute sogar für die Kosmetikproduktion verwendet werden.

Unser Landsmann hatte also ca. 14.000 Seelen zu betreuen. Für ihn begann das typische Leben eines Landpfarrers in Südchile. Tagelange Reisen zu Pferd, Motorboot, Segelboot, Ruderboot bei Wind und Wetter und das in einem Bezirk von der Größe der Eifelkreise Daun und Prüm. Alois klagte einmal, daß die Einheimischen alles vom Priester erwarten, aber niemand denkt an die Unkosten, wenn er ein Pferd oder Boot für seine priesterliche Dienstleistung benötigte.

Als Melancholiker litt er unter der Einsamkeit. Er erzählte, daß es in seiner Pfarrei nur vier deutsche Familien gäbe. In stillen Stunden hörte er Beethovenmusik. So verliefen die fünfzehn Jahre apostolischer Tätigkeit als treuer Seelenhirt in einem ländlichen Distrikt wo, wie jemand scherzhaft bemerkte, es dreizehn Monate im Jahr regnet.

Die allerschwerste Kraftprobe für Pater Pickro war das furchtbare Erd- und Seebeben am 22. Mai 1960. In wenigen Sekunden verwandelte sich der Erdboden in eine schreckliches Schlachtfeld. Die Erde spaltete sich und bebte in alle Richtungen. Der Meerboden hob und senkte sich, so daß das Wasser nach einem Seewärtsgang sich mit aller Gewalt auf das Land ergoss. Pater Luis berichtet, daß die Geographie seiner Pfarrei ein neues Gesicht bekam. Mehrere Inseln versanken im Meer und neue entstanden, zwei Dörfer auf der anderen Seite des Flusses wurden völlig abgespült und 300 Menschen kamen dabei ums Leben.

Ich zitiere eine Schilderung der Lage: »Alle Wege sind jetzt noch unterbrochen. Zu einer Kapelle, 18 km von hier entfernt, kommt man jetzt nur über einen Umweg von 42 km und nur zu Pferd. Die Staatshilfe und Privathilfe hat sich noch wenig ausgewirkt, mein Pfarrhaus ist nicht mehr zu bewohnen, lebe in einer Holzbaracke mit zwei Zimmern, alles ist feucht, der Körper schmerzt von Rheumatismus. Täglich kommen Gläubige, bitten und flehen um Hilfe, und man steht der großen Not machtlos gegenüber... alle Wohnungen in der Nähe des Flusses wurden von den Flutwellen hinweggerissen oder stehen nun unter Wasser. Not und Elend überall.«

Aber das Leben geht weiter. Die Soforthilfe stellte sich zur Aufgabe der Beschaffung von Lebensmittel, Kleidung, Arzneimittel und Baumaterial. Es wurde eine Sammelaktion in Chile und in Deutschland organisiert, durch die Cari-tas von Santiago und Freiburg. Besonders muß Doktor Wolfgang Wallisfurth, Leiter der Caritas-Chile, »ein Mann mit der Stoßkraft einer Dampfmaschine«, erwähnt werden.

Die deutsche Caritas stellte 690.481 DM zur Verfügung, Misereor eine Million DM. »Die Gesamtspende der deutschen Katholiken für die Erdbebennot in Chile beträgt - so weit bisher bekannt - annähernd drei Millionen DM. Dazu kommen noch tonnenweise wertvolle Sachspenden.« In einem Schreiben an Herrn Martin (Vorgrimler ?): »Aus dem Süden Chiles, der Diözese Puerto Montt, sende ich Ihnen und durch Sie dem Caritasverband einen herzinnigsten Dankesgruß. Durch meinen Landsmann und Confrater Pater Jose Kühl, Pallottiner, erhielt ich 10.000 DM als Hilfe an die große Not.« Als erstes sah sich Pater Pickro gefordert, den Menschen Mut zu machen. Man kann sich leicht vorstellen, daß dieses Unglück für unseren Freund eine schwere Belastung war. Trotz-dem blieb er auf seinen Posten und schonte seine Gesundheit nicht. Im Gegenteil, er besuchte alle Familien wo es Not und Hunger gab und wo Geld, Hilfe, aber vor allen Dingen Trost und Ermutigung benötigt wurden. So war er ständig unterwegs bis spät in die Nacht hinein. Eine Zeitung von Puerto Montt widmete ihm Worte des Dankes für die unermüdliche Hilfeaktion. Der Schreiber unterstrich seine »grenzenlose Güte und Opferbereitschaft.«

COLIGUAL. - Damit fängt ein neues Kapitel im Leben von Pater Pickro an, das auch sein Ende sein sollte. Der Bischof ernannte ihn zum Pfarrer von Coligual.

Dieses Dorf liegt westlich vom wunderschönen Llanquihue-See mit Blick auf drei schneebedeckte Vulkane. Coligual hatte eine interessante Struktur, die für ganz Südchile gilt; die Kolonisation Südchiles durch die deutschen Einwanderer im vergangenen Jahrhundert.

Als Pfarrer von Coligual betreute Alois Pickro 5.000 Seelen, 17 Schulen, 4 Filialkapellen, die Fläche der Größe des Kreises Daun entsprechend. Dazu bessere Wege, ein Jeep (Geschenk der Gerolsteiner Berufsschule) und somit Abschied vom Pferd, Fahrrad und Segelboot. Die Außenstellen, die er regelmäßig besuchte, lagen 10 bis 30 km vom Pfarrort entfernt. Die Sonntagsmesse war Treffpunkt für Familien der Einzelhöfe; alle freuten sich, daß wieder ein deutscher Priester kam. Schnell war eine Atmosphäre der Freundschaft und des Vertrauens zwischen Priester und Gläubigen entstanden. In Coligual starb Pater Pickro 1968.

Ein Freund, der Alois sehr gut kannte, charakterisierte ihn so: »Entsagungsvoll und opferbereit war sein Leben als Priester in treuem Dienst für Gott und die Menschen.«

In Anwesenheit von Erzbischof Alberto Rencoret, aller Priester und vieler Gläubiger wurde Alois im Friedhof von Coligual am 31. 12.1968 beerdigt, im Schatten der Kirche.

Vor einigen Jahren besuchte Fräulein Agnes Pickro, Schwester von Alois, Südchile und betete am würdigen Grabe ihres Bruders. Sie konnte spüren, wie sehr man allerorts Person und Leistung des Verstorbenen würdigte.