Brief an Goethe

Lotte Schabacker, Daun

 

Sehr geehrter Herr von Goethe,

länger habe ich überlegt, wie ich Sie eigentlich ansprechen soll. Sehr verehrter Herr Geheimer Rat? Gnädigster Fürst der Dichter? Großer Meister? Oder schlicht »Lieber Wolfgang«?

Wenn ich nämlich behaupte, wir beide seien miteinander versippt oder verschwägert, so kann mir das niemand widerlegen, noch nicht einmal Sie selbst. Sie wären bestimmt auch der Letzte, der darauf bestünde, es sei in Ihrem Leben bei den paar Liebschaften geblieben, die gerade mal aktenkundig geworden sind. Und da ich an vielen Orten, die Sie besuchten, Verwandte habe, könnte es doch sein . . . Aber leider fehlen mir noch eindeutige Beweise und so will ich es dann einstweilen bei der neutralen Anrede belassen. In der Hoffnung, daß sie falsch ist. Und daß Sie das auch wissen!

Weshalb ich in diesen alten Geschichten herumrühre? Ich habe eine Frage an Sie, die meine engere Heimat betrifft. Eine etwas heikle Frage und ich bin sicher, Sie werden sie einer anhänglichen Verwandten eher beantworten als etwa einer kritischen, offiziellen Instanz. Denn die könnte sich, wenn Sie endlich mit der Wahrheit herausrückten, verpflichtet fühlen zu veranlassen, ganze Bibliotheken umzuschreiben. Und Sie, verehrter Meister, müßten sich dann den Vonwurf gefallen lassen, fahrlässig gehandelt zu haben, denn Sie haben ja nicht nur für Ihre Zeit, sondern auch für die kommenden Jahrhunderte geschrieben, so heißt es doch. Wem das aber zu können vergönnt ist, der hat auch eine Verantwortung. Er hat bei Bedarf die Verpflichtung zu warnen! Und seine Prophezeihungen deutlich auszusprechen. Lyrik genügt da nicht!

Aber nun zur Sache. Ob Sie wohl einmal in der Vulkaneifel waren? In Daun etwa? Das Städtchen existierte zu Ihrer Zeit schon, wenn es auch kleiner war als heute. Vielleicht erscheint Ihnen die Frage einfältig, weil es für Sie selbstverständlich war, mal hier einzukehren und sich umzuschauen, auch wenn sich das nicht herumgesprochen hat. Schließlich hat sich der Sage nach schon Pontius Pilatus an unserem Totenmaar das Leben genommen. Und eine Reihe Ihrer berühmten Zeitgenossen sind ebenfalls hier aufgetaucht. Da hätten wir etwa den Helmuth Graf von Moltke, der anläßlich einer Inspektionsreise durch die Eifel am Gemündener Maar seinen Geburtstag feierte. Das haben Sie zwar nicht mehr erlebt und vielleicht war Ihnen damals der junge Mann, der rund 50 Jahre nach Ihnen das Licht der Welt erblickte, kein Begriff. Aber heute ist er einer.

Und dann König Gustav der Vierte Adolf von Schweden, der 1809 auf seiner Flucht drei Wochen in Dreis, einem Dorf bei Daun, Zuflucht suchte. Den kennen Sie sicher dem Namen nach. Er hinterließ hier übrigens einen silbernen Becher.

Sie selbst hielten sich, wie man hört, einige Zeit in einem Schloß nahe Ehrenbreitstein bei Koblenz auf. Die Stadt liegt bei uns gleich um die Ecke, wir fahren oft dorthin einkaufen. Nun hatten Sie zwar kein Auto, aber Sie konnten zu Pferde sitzen, jedenfalls dichteten Sie das. »Es schlug mein Herz, geschwind zu Pferde . . .« Und Postkutschen gab es auch. Na also! Schließlich sind unsere Maare entwicklungsgeschichtlich bemerkenswerter als der Rhein. Und für einen Mineralogen ist gleich die ganze Gegend interessant.

Was mich das angeht? Oh, sehr viel. Ich bin hier zu Hause! Haben Sie keine Angst, ich will in unserer Ortschaft keine Gedenktafel anbringen. Aber ich werde den Verdacht nicht los, daß Ihnen genau hier eines Ihrer berühmtesten Gedichte einfiel. Wo Sie es dann letzten Endes zu Papier brachten - angeblich war das in Weimar - spielt keine Rolle. Als Gedächtnisstütze für Sie - der Vers lautet:

Über allen Gipfeln

ist Ruh',

in allen Wipfeln

spürest du

kaum einen Hauch;

die Vögelein schweigen im Walde.

Warte nur, balde

ruhest du auch.

Weshalb mir bei diesen Worten gerade meine Heimat einfällt? Da paßt eben alles! Sehen Sie, unser Städtchen ist von Bergen umgeben, die Gipfel haben. Darauf wachsen Wälder, die Wipfel tragen. An windstillen Tagen spürt man hier kaum einen Hauch und die Vögelein schweigen im Walde, wenigstens nachts.

Zu Ihrer Zeit herrschte in der Tat über besagten Gipfeln Ruh', auch bei Sonnenschein. Das hat sich inzwischen geändert. Heute tummeln sich viele Flugzeuge und verursachen ein erschreckliches Getöse. Doch davon gleich. Bis zum »Walde« steht Ihr Gedicht in der Gegenwartsform. Aber was dann kommt, ist Zukunft. Futur nicht, was die Grammatik, sondern, was den Sinn angeht. »Balde« ist immer die Zeit danach!

Und nun die Frage, die ich gern beantwortet hätte: Meinen Sie mit »Balde ruhest du auch« sich selbst oder mich? Oder ganz allgemein uns hier in dem schönen Ländchen, das man seit einigen Jahrzehnten Rheinland-Pfalz nennt? Wir haben nämlich allen Grund, uns angesprochen zu fühlen.

Ihre Interpreten haben allerdings die Ansicht entwickelt, diese Worte seien Ausdruck einer schmerzhaften Vereinsamung gewesen. Oder es wäre Ihnen, schlicht gesagt, ganz einfach mal eine Laus über die Leber gelaufen, was jedem passieren könne. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie ein vorübergehendes Gemütstief oder den Unglücksfall mit der Laus gleich an die große Glocke gehängt hätten. Gerade Ihnen, dem Genius, muß doch klar gewesen sein, was jedes Kind weiß: Der öffentliche Flirt mit dem eigenen, drohenden Hinscheiden ist eine Art von Erpressung! »Seid gefälligst nett zu mir, denn. . .« Das wäre einem überlegenen Geist doch bestimmt nicht gut genug gewesen, zumal Ihr Ableben ja erst Jahrzehnte nach der Reinschrift des Verses stattfand. Spätestens als Sie merkten, daß aus dem »Balde« nichts geworden war, hätten Sie doch Ihr Gedichtchen stillschweigend aus dem Verkehr gezogen, nicht wahr? Statt dessen haben Sie, wie man hört, später noch daran herumgefeilt, es dann aber schließlich bei der ersten Fassung belassen.

Der Schluß liegt nahe, daß Sie mit dieser letz-ten Verszeile doch kommende Generationen meinten. Ich entsinne mich gelernt zu haben, daß Sie auch sonst von Krisen-Visionen überfallen wurden, wenn Sie sich die Entwicklung des damals anbrechenden technischen Zeitalters ausmalten. Sie mußten ahnen, daß die Ruh' über den Eifelgipfeln (siehe oben) eines Tages dahin sein würde. Daß man die Erde unseres Landes als Waffenarsenal Nummer eins mißbrauchte und sie so zur vorrangigen Zielscheibe für gebündelte Vernichtungsabsichten machte. Daß also wir, die wir heute hier leben, sozusagen auf einem Pulverfaß sitzen. Da könnte ein Funke, ausgelöst irgendwo von panischer Angst, genügen, um die Prophezeiung der Worte wahr zu machen: Balde ruhest du auch!

Sie sehen, lieber Meister, ich habe mich auf die Wahrsagung versteift, denn es geht mir, wie gesagt, ganz und gar gegen den Strich, Sie weinerlich zu sehen. Und so folgt der Frage eine Beschwerde, die ich auch gern loswerden möchte: Man kann doch nicht die Befürchtung oder gar Erahnung einer Katastrophe mit einem Sätzchen Poesie abtun! Da finden Sie für Ihre Visionen, falls es denn wirklich solche gab, nur einen ungefähren, nebelhaften, aber keinen überzeitlich gültigen Ausdruck, wie sich das für jemanden wie Sie gehört hätte. Sie bangen nicht in Ihrer brillanten Prosa um das Seiende in den Dingen, das eines schlechten Tages vielleicht gar nicht mehr seiend sein wird. Sie sprechen keine präzise Warnung aus, nennen die Dinge nicht bei ihren unguten Namen, dichten vage ins Vieldeutige, Unverbindliche und gehen zu Ihrer Tagesordnung oder -Unordnung über.

Hätten Sie sich damals schon radikal mit dem ganzen Gewicht Ihrer Persönlichkeit für Ruh' und Weltfrieden eingesetzt, laut und deutlich, so hätten wir heute weniger Sorgen. Es ist ja ein Unterschied, ob S i e gegen die Vernichtung alles dessen sind, was wir lieben, oder ich. Ob S i e für das Recht auf Heimat eintreten, oder ich.

Bei aller sonstigen Verehrung - aber Ihr oben aufgezeichnetes Gedichtchen dreht mir den Magen um. In diesem Sinne . . .