Kirmesdaach —

et Hous foller Lekt im de Koh kaleft

Madlene Steffes, Nettersheim/Pesch

 

»Se äs alt veer Deech iver de Zejt, ausjerech-net woar se fir denn veerten!«

Zwei Höhepunkte des Jahres an einem Tag: Zum ersten Male soll sie kalben, und das ausgerechnet ganz anders als ausgerechnet, nämlich »op Kirmesdaach«: »Et Hous foller Lekt und de Koh kalverisch!«

Nachdem der ausgedehnte Kaffeeschmaus an der noch immer reich gedeckten Kirmestafel sich seinem Ende zuneigt — der Hausherr Hermann hat zwischenzeitlich immer wieder unruhig im Stall nachgesehen —, scheint es gegen fünf Uhr nachmittags endlich ernst zu werden.

Forscher als sonst, nahezu hektisch betritt Hermann nach einem seiner üblichen Stallinspektionsgänge das Eßzimmer, geht wortlos zur Küche, füllt eine Schüssel mit warmem Wasser, greift sich Handtuch und Seife und verschwindet ebenso wortlos wie er gekommen war wieder in Richtung Stall.

Gepackt von Neugier und Geburtshelferfieber eile ich ihm nach, und da sehe ich sie nun leibhaftig vor mir, die Hauptperson«: »Weyischs Koh Berta«!

Noch liegt sie relativ ruhig in seitlicher Linkslage im Stroh, den Kopf leicht zur rechten Seite geneigt und nur manchmal kann der aufmerksame Betrachter die Schmerzen der Kuh bei den in längeren Abständen wiederkehrenden Wehen erahnen.

»De Bloos äs weg, ever de Fees kun net mal. De Kap äs noch am Becken!« belehrt mich Annen Alois, kundiger Geburtshelfer von kräftiger Statur, gewissermaßen ein Spezialist, der wie eine Hebamme bei fast allen Stallgeburten im Ort hinzugezogen wird.

Für Alois war also die Schüssel mit dem warmen Wasser, und jetzt weiß auch ich: es ist soweit! Alois kniet fachmännisch hinter der werdenden Mutter im Stroh, beide Hemdsärmel hochgekrempelt. Den linken Arm bis zum Ellbogen in der Kuh, arbeitet er ganz konzentriert; sucht, fühlt, zieht — vergeblich, denn die Füße wollen nicht mitkommen. Ein mechanischer Geburtshelfer muß her!

Zum richtigen Zeitpunkt betritt Sachsisch Werner den Stall. In der rechten Hand trägt er das neueste Modell des mechanischen Geburtshelfers, in der linken ein Gurkenglas, darin eine dünne Kette in Desinfektionslösung.

Während Alois noch die Lage bekanntgibt und das Kettchen zum Einsatz vorbereitet, erscheint Hobby-Bauer und Nachbar Bäkisch Hermann mit langen Schritten, erledigt zunächst sein kleines Geschäft in der Jaucherinne am Schweinestall, rückt sich seine Mütze zurecht und begibt sich dann zu Annen Alois, Sachsisch Werner und Weyisch Hermann.

Es kann losgehen! Alois schlingt die Kette um die Füße des noch ungeborenen Kalbes — man erwartet ein Stierkalb —, und durch einen Ring am Kettenende wird ein etwa 30 cm langer Holzstab geschoben, an dem erst Werner allein, dann Hermann und Werner gemeinsam auf Kommando von Alois vorsichtig ziehen.

Die Kuh ist geduldig. Langsam strafft sich die Kette. Gott sei Dank, die Füße des Kalbes erscheinen, aber nicht mehr!

Alois bricht die Entbindung ab. Eine gewisse Sorge ist unüberhörbar, als er sachlich feststellt: »Dat muß denn Deerarzt machen, dem muß wekten un heven!«

Derweil sitzen die weiblichen Kirmesgäste weiterhin vor der immer noch gedeckten Kaffeetafel, reden mal über die bevorstehende Geburt, mal übers Wetter oder die Dorfpolitik. Aber in einem Punkt sind sich alle einig: »Wir fahren erst nach Hause, wenn das neue Kälbchen begossen werden kann!«

»Maria, ma muosen denn Deerarzt rofen«, mit diesen aufgeregten Worten Hermanns platzt der Traum von einer schnellen sanften Geburt wie eine Seifenblase.

Wenn das nur gutgeht, denn immerhin wird, da Berta schon vier Tage über die Zeit ist, ein Stierkalb erwartet, und das bedeutet natürlich auch mehr Geld. Bis zu 600 DM bezahlen die Händler für ein Neugeborenes. Unabhängig von dem drohenden finanziellen Verlust sind es vor allem die Frauen, welche Berta bedauern, die sicherlich von Schmerzen gepeinigt im Stall liegt, vielleicht sogar einen Kaiserschnitt vor sich hat.

»Dat orem Deer. Ech hon et alt de Mettech jesoht, die Koh schafft dat net alleen, sos wear dat Kalef alt lang do.« — »Hermann het de Koh fierher oafmelken muosen, welln äs et zo spot. Mir hon dat freher immer jedon!« — »Mor muos Hermann daheem bleeven, die Koh muos fü-nef-/sechsmol jemolek Jen, sos kret se dat Meelechfieber!« -

Hermann hört diese gut gemeinten Ratschläge nicht mehr, ist bereits unterwegs zu Berta und Maria ruft den Tierarzt:            0 65 91 . . , eine Gerolsteiner Nummer. Mein Gott, so weit, 12 Kilometer, und draußen ist es dunkel und neblig! Zu allem Unglück ist der Arzt nicht zu erreichen, ist unterwegs in Hillesheim bei einer fiebernden Kuh, aber er kann »angepiepst« werden.

Ein Hoch der Technik, denn ein zweiter Anruf gegen halb sechs bestätigt: Der Tierarzt ist unterwegs!

Alle atmen auf, nur Berta weiß noch nichts von ihrem Glück, liegt weiterhin von Wehen gepeinigt im Stall, wird immer wieder, wenn sie sich legen will, hochgebracht, nicht immer auf sanfte Art, aber alles ist angeblich nur zu ihrem Besten.

»Dat Deer muos stoan, dat dreivt net esu!« belehrt Alois mich fachmännisch, und Bäkisch Hermann meint zur Kuh: »Spoar dir deng Kraft für noher.« Als ob sie es verstünde, die arme Berta, wo sie nicht einmal weiß, daß Hilfe naht. Immer wieder versucht sie sich hinzulegen, wird wieder hochgetrieben, kräftezehrende Aktionen!

Mittlerweile tropft Milch aus dem Euter, erst wenig, dann mehr, und schließlich läuft es beständig; wie ein feiner Bindfaden zieht sich der weiße Strang bis zum Boden. Häufiger krümmt Berta den Rücken wie eine Katze und tut das, was sie — so Alois — eigentlich nicht sollte: sie treibt, und mit jeder Wehe werden die zarten Vorderfüßchen des noch ungeborenen Kälbchens für kurze Zeit ein wenig sichtbar.

»Mein Gott, wo nur der Tierarzt bleibt!« Hermann ist sichtlich besorgt, wischt sich die schleimige Hand an der noch stehenden Kuh ab, starrt hilflos, geistesabwesend durch die im Oberteil geöffnete Stalltür in die Dunkelheit.

Auch Maria wird immer aufgeregter, räumt mechanisch den Kaffeetisch ab, rennt immer wieder bis zur Stalltür.

Nichts! Kein Tierarzt und die gute Stube immer noch voller Besucher, die mit klugen Ratschlägen nicht geizen, sich gar erdreisten, Schauermärchen von im Mutterleib durchgesägten Kälbchen zu erzählen. Sie berichten sogar von komplizierten Zwillingsgeburten, bei denen ein Kalb das andere im Mutterleib tottrat.

Noch kein Tierarzt in Sicht. Die Stimmung wird immer angespannter, der Uhrzeiger rückt langsam, ganz langsam auf sechs Uhr vor; 30 Minuten für nur 12 Kilometer! Hoffentlich ist da nichts passiert bei dem Nebel.

Bernd rennt zur Straße, will als erster die Ankunft des Tierarztes verkünden. Wie soll ein kleiner Junge von gerade neun Jahren auchsonst helfen?

Berta hat sich inzwischen hingelegt und preßt beständig, Zentimeter für Zentimeter.

Langsam bewundere ich die werdende Mutter. Alle sind hektisch, aufgebracht und doch hilflos, nur Berta scheint sich davon nicht irritieren zu lassen. Die Natur weiß am besten, was gut für sie ist! Diese Erkenntnis stimmt mich optimistisch, froh und irgendwie sogar glücklich. Ich bin mir fast sicher, daß Berta es alleine schaffen kann.

In diesem Augenblick meldet Bernd atemlos die Ankunft des Tierarztes. Allgemeines Aufatmen, große Erleichterung, denn der Doktor versteht etwas von seinem Fach.

Langsam betritt der Arzt den Stall, ein mittelgroßer Mann, blaue Gummistiefel, graue Kniebundhose, aus der ein wenig zu kurze blaue Socken hervorlugen, ein blauer Pullover, mit braunen Lederflecken besetzt.

So sieht er also aus, der Tierarzt, der Berta von ihrem ersten Kalb entbinden soll. Den Pullover zieht er aus. Geräuschvoll entfaltet er seine weiße Gummischürze, zieht sie über und wäscht sich rasch, aber gründlich die bis zu den Achselhöhlen entblößten Arme. Aus der Bereitschaftstasche nimmt er eine Flasche, öffnet sie und in drei Arbeitsgängen trifft er die letzten Vorbereitungen für eine möglichst reibungslose Entbindung. Zwei Strickchen werden nach kurzer Desinfektion vom Tierarzt an den Füßen des noch immer ungeborenen Kalbes befestigt, deren Ende verbindet man mit dem mechanischen Geburtshelfer von Sachsisch Werner.

Der Tierarzt dirigiert die Richtung, in der das Gerät gehalten werden soll, hebt gleichzeitig das Kalb im Mutterleib, während es die Männer über eine Pump-Gleit-Vorrichtung gleichmäßig in die Welt ziehen.

»Hermann, kahl Wasser!« Dieser Aufruf beweist es, das Kalb ist da! Noch etwas benommen zwar, aber nachdem sein schlammiger Körper mit dem kalten Naß in Berührung gekommen ist, schaut es durchaus munter und aufgeweckt drein, sicherlich froh darüber, daß sein immer noch nasses und nun auch noch kaltes Fell mit frischem Stroh abgerieben wird. Beim Anblick dieses prächtigen Stierkälbchens können die stolzen Besitzer Maria und Hermann die 85 DM, die der Tierarzt für seinen kurzen Einsatz erhält, leicht verschmerzen, selbst wenn sich später bei der obligatorischen Schnapstaufe alle darin einig sind:

«Mir netten et sicher och oane denn Deerarzt jeschafft, aver. . . «

Nachtrag:

Bereits eine Woche nach diesem aufregenden Ereignis wurden Berta und ihr kleiner Sohn für einen stattlichen Preis dem Viehhändler verkauft. So ist das Leben.