Der Trommler von der Kasselburg

Eine Sage

Wilma Herzog, Gerolstein

 

Als wir noch Kinder waren, führten die Eltern uns bei den gemeinsamen Sonntagsspaziergängen auch zur Löwenburg oder Kasselburg. Auf den Wegen wußte uns der Vater mit vielerlei Geschichten und Sagen um die Burgen in Spannung zu halten. Eine, die uns die Strecke zur Kasselburg verkürzte, war die vom Trommler.

Als vor vielen Jahren jetzt längst zerfallene weitere Mauern und Türme der Kasselburg bei Pelm sichtbar waren und es noch einen Brunnen auf dem Gelände gab, der Wasser führte, da geschah es, daß ein kleiner Hund, den niemand kannte, gesehen wurde, wie er aus einer stollenähnlichen Öffnung herauskam. In seinem Maul trug er einen spröd gewordenen Lederbeutel. Darin fand man eine Anzahl sehr alter Gold- und Silbermünzen. Damals war den Leuten noch manches um die Geschichte der Burg besser in Erinnerung als uns heute. Deshalb entsann man sich eines unterirdischen Ganges, den es von der Kasselburg zur Löwenburg in Gerolstein gegeben haben soll. Es wurde vermutet, daß der Hund diesen Weg genommen und unterwegs den Beutel gefunden hatte. Die Gier nach Gold und Schätzen begann in einigen Köpfen zu spuken. Vielleicht gab es außer dem Lederbeutel mit Münzen einen noch größeren Schatz? Vielleicht Kostbarkeiten, die auf einer Flucht hinterlassen wurden? Da man den Hund nicht mehr bewegen konnte, den Gang zu betreten und aus dem Tier sowieso nichts herauszuholen war, suchte man mutige Burschen, die bereit waren, für ein Silberstück den Gang zu erforschen. Bereits nach einer knappen Viertelstunde kamen sie völlig durchnäßt und verdreckt wieder zum Vorschein. Sie berichteten, es gäbe tatsächlich einen teilweise zerfallenen Gang. Geröll und Wurzelwerk erschwerten das weitere Vordringen, es sei denn, sie wären durch recht schmale Öffnungen gekrochen. Das schien ihnen zu gefährlich. Auch gegen die doppelte Belohnung waren sie zu keinem zweiten Versuch zu bewegen. Münzen hatten sie nicht gefunden, wohl aber zog einer aus dem mitgenommenen Sack eine alte Schwertscheide. Selbst dieser rostige Fund diente dazu, die Gier nach vermeintlichen Schätzen weiter zu schüren.

Man sann nach einer anderen Möglichkeit, doch noch zum Ziel zu kommen. Damals war es üblich, einem Schwerverbrecher für eine wagemutige Tat die Freiheit zu schenken. Ein Angebot ging zum Kerker. Es dauerte lange, bis die Antwort kam. Ein Gefangener, zu lebenslänglicher Haft verurteilt wegen Überfalls auf eine Postkutsche, wurde gemeldet. Es dauerte einige Tage, den Betreibern der Schatzsuche viel zu lange, bis die notwendigen Formalitäten erledigt waren und das Gefährt mit dem Gefangenen am Abend vor der Dorfgaststätte in Pelm eintraf. Erst sprangen die Bewacher ab, dann, schwerfälligen Fußes, durch Beinfesseln behindert, kam der junge Gefangene zum Vorschein. Etwa Mitte Zwanzig, in grauer Sträflingskleidung, sein blondes Haar kurzgeschoren. Man führte ihn in die Wirtschaft. Hier erfuhr er, was er zu tun hatte. Rasch füllte sich der kleine Raum mit Neugierigen, denn jeder wollte einen Blick auf den Gefesselten werfen. Morgen würde menschliche Habgier ihn in Gefahr bringen. Denn es war allen klar, daß dieses Begehen des Ganges böse ausgehen konnte. Manche, die den Gastraum heute Abend wie an einem Markttag füllten, hatten ihre eigenen Gedanken. Da sitzt jemand, den man gefaßt hatte. Vielleicht war es kein Überfall, aber wer hat nicht aus der gleichen bittren Not schon Verbotenes getan? Einem Waldtier eine Schlinge gelegt, im Forst einen Baum für Brandholz geschlagen. Oder man dachte an das fremde Huhn, das erst kürzlich den Kochtopf füllte. Hier aber wurde ein Geschäft beschlossen, bei dem sich jeder seinen Teil versprach, dessen Einsatz jedoch einzig und allein von diesem jungen Mann kam. Sein Leben gegen irgendwelche Schätze, die es vielleicht gar nicht gab? Niemand wußte, warum der Gefangene sich für dieses Abenteuer gemeldet hatte. Auch die Wirtsfrau erfuhr nichts. Sie konnte den Wachposten abends spät noch überreden, dem Gefangenen ein Getränk zu bringen. Er nahm das auch dankbar an, trank den Moselwein schweigend und sprach kein Wort, als die mitleidige Frau den Becher nahm und weinend ging. Am anderen Morgen brachte man ihn zur Kasselburg. Der Schmied vom Dorf nahm dem Gefangenen die Fesseln ab, Flucht war unmöglich. Bewaffnete mit Hunden und Berittene umstanden die kleine Gruppe direkt hier vor dem Eingang. Auch dort, wo der alten Zeichnung nach der Gang unter Wiesen und Feldern verlaufen sollte, standen Posten, wie vor der Öffnung des Ganges in der entfernt liegenden Löwenburg.

Der Schmied setzte dem Mutigen einen handgefertigten Metallhelm auf, der ihn vor herabfalendem Gestein schützen sollte. Andere banden ihm einen stabilen Lederriemen um den Leib, daran wurden Sack und Axt befestigt. Eine kleine Laterne zurrte man über seiner Brust fest, der Spaten kam quer über seinen Rücken. Dann gab man ihm die Trommel. Plötzlich eine Bewegung in der Menge. Eine Unbekannte drängte sich blitzschnell an den Bewachern vorbei. Sie trug ihr Kopftuch noch tiefer ins Gesicht gezogen als üblich. Rasch faßte sie die Hand des Gefangenen, sagte ihm ein paar Worte, die kein anderer verstand und verschwand in der Menge. Später hieß es, es sei seine Mutter gewesen. Er stand jetzt still, blaß wie der Tod. So wartete er auf den Befehl. Noch einmal rückte er am ledernen Riemen unter dem Kinn den Helm zurecht. Abmarsch. Zum Abschied ließ er einen kleinen Trommelwirbel hören. Dann drehte er sich um und stieg in die Tiefe. Wie vereinbart ertönten die Trommelzeichen. Auch die Posten auf den Feldern hörten dumpf die Signale. Eine Zeit lang, dann war Stille. Noch 10 Tage ließ man die beiden Öffnungen des Ganges an den Burgen bewachen, nachts waren sie durch Fackelschein hell erleuchtet. In Pelm hatten ein paar Fromme Wachslichter vor dem Kreuz in der Dorfmitte aufgestellt. Der Trommler wurde nie wieder gesehen. Jahre später, die Angelegenheit war fast vergessen, sah ein Bauer beim Pflügen seines Ackers, der halbwegs zwischen den Burgen lag, ein seltsam geformtes Stück Holz. Er hielt sein Gespann an, um es aufzuheben. Es war ein Trommelschlegel. Er entsann sich der Geschichte und brachte den Fund abends mit zur Dorfgaststätte. Mit einem Lederriemen befestigte man den Gegenstand an der Wand. Fremden, die nach seiner Bedeutung fragten, erzählte man die Geschichte des Trommlers von der Kasselburg. Hatte er wirklich seine Freiheit gefunden? Jeder, der die Geschichte hörte, wünschte es. Manche wollen den Trommler von der Kasselburg mit seinem metallenen Helm gesehen haben. Man sagt, wer feines Gespür für Gefahr besitzt, kann selbst in unseren Tagen deutlich den mahnenden Trommelwirbel hören.«