Aus für den kleinen Laden?

Herbert Hermes, Daun

 

Nach Kriegsende nahm in der Bundesrepublik die Zahl der Einzelhandelsunternehmen zunächst stark zu. Steigendes Einkommen und damit die Möglichkeit, erhöhte Konsumwünsche zu verwirklichen und die Hoffnung vieler Menschen auf die Begründung einer selbständigen Existenz waren wesentliche Ursachen für die bis Anfang der 60er Jahre anhaltende "Handelsexpansion".

In den zwanzig Jahren hat sich der Handel dynamisch weiterentwickelt. Der Einzelhandel befindet sich seit dieser Zeit in einer strukturellen Umbruchsituation, tendiert immer mehr zu den marktmächtigen Großunternehmen, die zu einem Expansions- und Konzentrationsprozeß geführt haben. Gründe für den tiefgreifenden Strukturwandel sind in unternehmenspolitischen Strategien, Überproduktion und in Veränderungen der Struktur- und Mobilität (Motorisierung), der Verbrauchernachfrage und einer völlig neuen Konkurrenz- und Standortsitüation zu suchen. Eine wesentliche Rolle dürfte die Expansion der sogenannten Super- und Verbrauchermärkte, die als Resultat eines mehrstufigen Rationalisierungsprozesses im Einzelhandel aufgefaßt werden können, gespielt haben. Der Einkaufskonzentration folgte die Servicereduktion, dann die totale Selbstbedienung und zuletzt der Standort am Ortsrand oder im Außenbereich mit günstigen Grundstückspreisen. Als Ergebnis dieser Entwicklung ist eine rasante Unternehmens- und Umsatzkonzentration festzustellen. Sie begünstigte vor allem die aggressiven Betriebsformen der Super- und Verbrauchermärkte in den 70er und 80er Jahren, sowie Fachmärkte (Bau-, Hobby-und Freizeitmärkte) in den letzten Jahren. Diese Entwicklung ist nicht ohne Auswirkungen auf die räumliche Struktur des Versorgungsnetzes mit Einzelhandelsleistungen geblieben. Es begann ein Verdrängungswettbewerb des mittelständischen Einzelhandels, dem Anfang der 60er Jahre ein "Ladensterben" einschließlich der Lebensmittelhandwerksbetriebe, wie Bäcker und Metzger, folgte, das bis in die heutige Zeit anhält. Ganz besonders ist im ländlichen Raum der Laden im Dorf, der liebevoll oder respektlos auch "Tante-Emma-Laden" genannt wird, davon betroffen. Der kleine, wohngebietsbezogene Laden war für viele Bewohner ein wichtiger Treffpunkt mit Informations- und Kommunikationsgelegenheit. Hier konnten Mitteilungsbedürfnisse und der Spaß am Schwätzchen befriedigt werden. Mit seinem Verschwinden fehlt für die Dorfbewohner über die rein wirtschaftliche Funktion der bürgernahen Versorgung hinaus ein wesentlicher Bestandteil der dörflichen "Lebensqualität". Hinzu kommt der Verlust der dorfbildprägenden Elemente dieser Einrichtungen.

Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Entstehung der Großbetriebe, so ist festzustellen, daß mit ihrer Entwicklung sich ein Nutzungs- und Funktionswandel vollzieht, der die Attraktivität der Kernbereiche von Städten und Dörfern gefährdet. Mit großmaßstäbigen und monofunktionalen Einkaufseinrichtungen geht häufig eine Störung der gewachsenen Strukturen und Ortszentren einher. Größere Betriebe benötigen zudem einen größeren Einzugsbereich, so daß sie eine verstärkte Nutzung des Pkw zum Einkaufen mit sich bringen und dadurch schädliche Umwelteinwirkungen, wie Lärm oder Abgasbelastungen in Wohnstraßen verursachen. Sie stehen nicht im Einklang mit der in den vergangenen Jahren verstärkt geforderten "Kleinteiligkeit" und "Individualität".

Ganz besonders nachteilig ist die Ansied-lung von Super- oder Verbrauchermärktenaußerhalb der Ortskerne. Es besteht die Gefahr, daß die Versorgung mit Gütern des täglichen und kurzfristigen Bedarfs vor allem in den Dörfern nicht mehr sichergestell ist. Nicht jede Familie kann sich einen Zweitwagen leisten, um die fast täglich benötigten frischen Lebensmittel wie Milch, Fleisch, Brot oder Brötchen, von einem Supermarkt zu holen. Noch ärger trifft es ältere Leute, denn diese haben oft überhaupt keine Autos zur Verfügung. Öffentliche Verkehrsmittel entsprechen auf dem Land wegen der geringen Siedlungsdichte häufig nicht dem erforderlichen Bedienungsstandard und sind zudem strapaziös und teuer. Rand- oder Außenbereichsstandorte führen schließlich zu einer rückläufigen Investitionsbereitschaft im Ortskern. Die Folge ist, daß sich der Ortskern als Einkaufsfunktion weniger gut entwickelt und in besonderen Situationen sogar eine Verödung eintritt. Zu bedenken ist auch die grundsätzliche Erfahrung mit Super- oder Verbrauchermärkten, daß der Bestand an qualifiziertem Fachpersonal durch die besondere Betriebsstruktur sehr gering ist, Beratungs- und Servicewünsche der Verbraucher vielfach unerfüllt bleiben.

Hinter den oft gepriesenen wirtschaftlichen Auswirkungen von Einzelhandelsgroßobjekten stehen vielfach trügerische Erwartungen. Die häufig angenommene Stärkung der kommunalen Finanzkraft durch höhere Gewerbesteuererträge, eine Verbesserung der örtlichen Arbeitslage und Erhöhung der Grundversorgung der Wohnbevölkerung durch Schaffung preisgünstiger Einkaufsgelegenheiten sind nicht uneingeschränkt gewährleistet. Da eine Umverteilung der Kaufkraft in der Regel zu Ertragseinbußen bei den mittelständischen Betrieben führt, werden per Saldo offenkundig keine höheren Gewerbesteuern erreicht, denn die von den Großbetrieben erzielten Gewinne fließen zum großen Teil nicht in die regionale Wirtschaft, sie werden überregional an die Zentralen abgeführt.

Arbeitsplätze werden, bezogen auf den Umsatz, aufgrund des geringen Serviceangebotes und der verfolgten Vertriebstaktik "Fläche ersetzt Personal" eher abgebaut, als zusätzlich geschaffen. Noch tiefgreifender ist die Situation bei den Ausbildungsplätzen.

Ob eine preisgünstige Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs in voller Sortimentsbreite bei Großbetrieben auf Dauer sichergestellt ist, bleibt fraglich. Nach Ausscheiden der Kleinbetriebe erhalten sie eine monopolartige Stellung, die ihnen ermöglicht, ihre Preis- und Angebotspolitik allein nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten der meist ortsfremden Firmenzentrale zu gestalten. Trotzdem muß zugestanden werden, daß die Einzelhandelsgroßbetriebe in der Vesorgungsstruktur einen wichtigen Platz einnehmen und wegen ihrer niedrigeren Preise und Sortimentsbreite für den Verbraucher hilfreich sind, wenn sie in zentralen Orten, an integrierten Standorten und nur in dem Umfang angesiedelt werden, daß der klein- und mittelständige Einzelhandel erhalten bleibt.

Auf die Tatsache, daß viele Dörfer auf dem Land keine örtliche Einkaufsmöglichkeit mehr haben, hat der Handel mit den rollenden Läden (Verkaufwagen) reagiert. Diese Läden sind vom Verbraucher allerdings kritisch zu sehen, weil sie nicht nur Vorteile, wie Wegeersparnis, Bequemlichkeit, Zeitersparnis und qualitativ hochwertige Frischwaren haben, sondern auch Nachteile, wie eingeschränktes Sortiment, zeitliche Beschränkung des Einkaufens, höheres Preisniveau, weniger Sonderangebote und Unregelmäßigkeiten bei der Tourenbedienung mit sich bringen.

Heute ist festzustellen, daß das Problembewußtsein bezüglich der Entstehung und Entwicklung der Großbetriebe und deren Auswirkungen auf die selbständigen Einzelhändler, wie Bäcker und Metzger, auf die Sicherung der Versorgungsstruktur und die städtebaulichen Strukturen gestiegen ist. Mit dem Sprichwort "Gefahr erkannt, Gefahr gebannt" ist es nicht getan.

Vielmehr muß eindringlich an Kommunen und Genehmigungsbehörden appelliert werden, rechtliche Instrumentarien auszuschöpfen, um den Einzelhandel so zu lenken, daß das "Ladensterben auf dem Land" nicht weitergeht. Es sind Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, die wirtschaftliche Situation der Läden in den Dörfern zu verbessern, um den kleinen, Lebensmitteleinzelhändlern, zu helfen, den ökonomischen Wettbewerb mit leistungsfähigen Filial- und Discountbetrieben dieser Branche zu überleben. Hierbei ist an kostensenkende, auch an umsatzsteigernde Aktivitäten zu denken. Als wirksame Maßnahme dürfte die Ausstattung der kleinen Geschäfte mit zusätzlichen Funktionen wie Toto-Lotto-Annahme, Medikamentenauslieferung, Reinigungsannahme, Annahme für Fotoarbeiten und Schuhreparaturen in Betracht kommen. Ein entsprechender Modellversuch wurde bereits in Dänemark mit Erfolg durchgeführt. Dabei ist die Dorfentwicklungs- und Dorferneuerungsplanung ein wichtiges Umsetzungsinstrumentarium, daß unabhängig von den Großbetrieben das Dorf seinen "Tante-Emma-Laden" - heute auch "Vergeßlichkeitsladen" genannt - behält oder wieder bekommt.