Der Paradiesvogel

Latte Schabacker, Daun

 

Was war denn das? Da kam ja ein Paradiesvogel angezogen! Ein Vögelchen eher. Ein kakelbuntes junges Mädchen von der Sorte, wie ich sie bisher nur in den berühmten oder - je nachdem - berüchtigten Straßen der großen Städte gesehen hatte. Oder im Fernsehen.

Das soll nun nicht heißen, daß die jungen Damen unseres kleinen Kurortes modisch von gestern seien. Ihre Verkleidung ist zumeist verknautscht, unkleidsam und so geräumig, daß auch zwei Zentner hineinpassen würden. Richtig schick, aber sie sind nur schwer auseinanderzuhalten; die uralte Vorliebe für Uniformen scheint so unausrottbar zu sein wie Unkraut.

Wogegen dieses Wesen unverwechselbar war, wenigstens hier bei uns. Die eine Seite seines Kopfgefieders stand steil hoch wie- ein Riesenrasierpinsel, die andere hing lockig herab wie bei einem Cokkerspaniel. Im Gegensatz zu den leuchtenden Regenbogenfarben dieses Kopfputzes war das Gesichtchen eher schwarz-weiß ausgefallen, mit Ausnahme des Mundes, der zum Rot eines schleierartigen Schals in Taillenhöhe paßte. Der Rock war so schief und zipflig, daß die rechte Seite den Schuh verdeckte und die linke einem Bikini Konkurrenz machte. Alles, was sonst noch an ihm herumbaumelte und -wehte, konnte man am besten mit dem Wort "flatterhaft" bezeichnen.

Nein, dieses Schätzchen war hier nicht ansässig, das hätte sich auch bis zu mir herumgesprochen; es war auch keiner "unserer" soliden und eher älteren Kurgäste von der Art, die auf Kneipps Wasserlehre schwören. Es wirkte wie ein Zugvogel, der mal kurz Station gemacht hatte, bei weitläufigen Verwandten vielleicht, die bei seinem Anblick auf den Rücken gefallen und deshalb nicht in der Lage waren, die Exotin bei einem Stadtbummel zu begleiten.

Ich beobachtete die Kleine mit kritischem Argwohn, wie sie sich da so leger meinem Vorgarten näherte. Mich konnte sie nicht sehen, die Gardine verbarg mich.

Ganz nah bei der niedrigen Mauer, die meinen Vorgarten gegen die Straße begrenzt, blühte eine wunderschöne, rosarote Rose, das einzige Exemplar, das der noch junge Strauch im Moment hervorgebracht hatte. Die ausgefallene Kleine verhielt ihren Schritt und blieb vor der Rose stehen. Sie blickte nach rechts und links; die Straße war menschenleer. Sie wird versuchen, die Rose abzureißen, dachte ich ängstlich, sie paßt genau zu ihrem Lippenstift. Sollte ich mich bemerkbar machen? Aber dann hob sie langsam beide Hände und legte sie liebevoll wie eine Schale unter die Blume, die genau in ihre beiden Handflächen paßte.

Sie neigte das Köpfchen und sog den Blumenduft tief ein. Dann ging sie weiter, kehrte jedoch nach einigen Schritten um und tat noch einmal das gleiche. Als sie sich aufrichtete, lag ein liebes Lächeln auf dem hell gepuderten Gesichtchen. Zum Abschied strich sie zart mit einer Hand über das Blumenwunder hin. Dann ging sie endgültig. Ich sah sie nie wieder.

In der nächsten Zeit stand ich noch öfter am Fenster hinter der Gardine; ich schaute nach dem Briefträger aus, von dem ich eine sehnlich erwartete Nachricht erhoffte. Ich sah viele Leute an meiner Rose vorübergehen; ältere und jüngere Paare, Senioren, Einzelgänger, Gruppen, Schulkinder, eben Hunz und Kunz. Aber niemand blieb stehen...