Natur und Landschaft

HOLUNDER - Baum der Frau Holle

Michael Blum, Euskirchen

 

An Wald- und Wegrändern, auf Schuttplätzen, gelegentlich auch im Garten oder in der unmittelbaren Nähe eines alten Bauernhauses können wir ihm begegnen; dem Holunderbusch.

Sein offizieller Name ist Schwarzer Holunder oder lateinisch sambucus nigra; doch der Volksmund heißt ihn in den unterschiedlichen Gegenden unseres Landes auch: Holder, Holler, Flieder, Hohler, Allhorn, Ellhorn...Ab Ende Mai bis Anfang Juli zeigt er seine aromatisch duftenden, in flachen, tellerartigen Dolden zusammenstehenden, weiß-gelblichen Blüten. Auf dem schwarz-grünen Hintergrund des Blattwerkes wirken sie filigranartig, wie in kostbares Zierwerk aus edlen Fäden gestickt, wie für ein hochzeitliches Brautkleid geschaffen.

Im Herbst reifen die glänzenden violettschwarzen, säuerlich schmeckenden Beeren. Auch während dieser Zeit geht etwas Geheimnisvoll-märchenhaftes vom Holunderbusch aus.

Unsere Vorfahren - im Folgenden liebevoll die Alten genannt - kannten und schätzten ihn weit mehr als wir "modernen" Menschen. Vor allem war ihnen seine vielfältige Anwendung in der Heilkunde (Volksmedizin) geläufig. Aus allen Teilen des Strauches wußten sie heilkräftige Mittel gegen viele Leiden und Unpäßlichkeiten herzustellen. Außerdem wurden aus Blüten und Früchten wohlschmeckende Süßspeisen, Säfte, Suppen und Marmeladen bereitet.

In den alten Hausbüchern der Pflanzen-und Heilkräuter, die heute zum Teil wieder aufgelegt werden, hat der Holunder einen besonderen Platz, und nahezu unübersehbar sind die angegebenen Rezepte für Heilmittel und Speisen.

Der Ruhm des Holunderbaumes geht bis in die graue Vorzeit zurück, sollen ihn doch schon die Steinzeitmenschen gekannt und benutzt haben. Unseren Urvorfahren, denen das einseitig rationale Denken unserer Tage fremd war, dachten anschauungsgebunden in Bildern. Für sie war ein Strauch, ein Baum, der solchen Reichtum an Heilkraft und Nahrung spendete, die Gabe einer Erd-Mutter-Gottheit, deren Ursprünge und Verehrung bis in die graue Vorzeit des Matriarchates hineinreichen. In der Gestalt der Frau Holle ist diese "mater magna" in Sage und Märchen bis heute lebendig geblieben. So erzählt ein Märchen, daß Frau 'Holle selbst sich einem unzufrieden klagenden, häßlichen Busch zur Winterszeit erbarmt, ihn mit vielfältigen Gaben ausstattet und ihn Hollerbusch nennt.

Nun ist der Holunder seit altersher neben dem Wacholder, der Haselnuß und ande-ren Sträuchern in besonderer Weise ein Baum der Frau Holle, die wie er viele andere Namen hat und sich in vielerlei Gestalt zeigt. Meist erscheint sie als altes, steinaltes Weib oder Mütterchen. Gelegentlich ist sie auch die Alte im Wald, die kräuterkundige Hexe mit spitzer, gebogener Nase und langen Zähnen. Im süddeutschen Raum nennen die Alten sie Perchta, auch Berta, und im russischen Märchen heißt sie Bava-Jaga. Immer aber ist sie ein Bild für die personifizierte Erde, die Leben schenkt und Leben nimmt. Besonders zugetan ist Frau Holle den Kindern, denen sie als Kornmuhme oder als Mütterchen Immergrün begegnet, Gutes belohnend und Böses bestrafend. Ebenso hold ist sie jungen, fleißigen Mädchen, denen sie besondere Gaben schenkt und sie zur Goldmarie macht. Aber auch die tapferen, uneigennützigen jungen Burschen erfahren ihre Huld und genießen ihr Wohlwollen. Was Wunder also, daß die Alten an den Schutz der Frau Holle glaubten, wenn ihre Kinder im Schatten des Ho-lunderbaumes spielten. Viele von uns erinnern sich noch an den Reim aus Kindertagen:

"Ringel, Ringel, Reihe

sind der Kinder dreie,

sitzen unterem Holderbusch,

schreien alle: husch, husch, husch!"

Auch für verliebte junge Leute war der Ho-lunderbusch ein Zufluchtsort, durfte sie doch nach dem Volksglauben der Alten dort niemand stören. Und dies galt auch dann, wenn die Eltern der Brautleute über deren Verbindung nicht glücklich waren. Ein wenig hiervon klingt noch nach in dem schwäbischen Volkslied:

"Rosestock, Holderblüt, wenn i mein Dirnderl sieh,lacht mer vor lauter Freud, s' Herzel im Leib."

Im Volksglauben der Alten gab es viel geheimnisvolles Brauchtum um den Baum der Holle. Als Lebens- und Sippenbaum pflanzte man Holunderbüsche um das Grundstück oder in die Nähe des Hauses,um böse Geister abzuwehren. Dasselbe sollte ein Holunderstrauch auf dem Grab eines Verstorben bewirken. Besonders in den Raunächten, der Zeit zwischen den Jahren, brachen die Alten Zweige vom Holunderbaum und steckten sie zum Schutz gegen Hexen und Unholde auf Felder, in Gärten, vor das Haus und den Stall. Der Hollerbusch war die Wohnung, die Behausung der Holle. In ihm wohnten auch ihre Helfershelfer, die den Duft der Blüten liebten.

Deshalb durfte Holunderholz niemals verbrannt werden. Wer diese Vorschrift verletzte, mußte mit einer harten Strafe der Holle rechnen; meist war es ein unvorhergesehenes Unglück, eine Krankheit oder gar der Tod.

Wer den Holunderstrauch achtete, konnte bei ihm Hilfe in Krankheit und Not finden. Vor allem glaubten die Alten, bestimmte Krankheiten und Gebrechen auf ihn übertragen zu können. Schlief ein Kranker eine Nacht unter dem Hollerbusch, wurde er gesund, und ein vom Gewitter Überrasch1 ter, der seine Zuflucht zu ihm nahm, war vor Blitzschlag sicher.

"Vor dem Holunder muß man den Hut abnehmen", sagten die Alten ehrfurchtsvoll. Viele Jahrhunderte hindurch bewahrten sie ihr Wissen und Ahnen um Frau Holle und ihren Baum, den Hollerbusch.

Auf meinen Streifzügen durch die Eifel, auf der Suche nach den Spuren Frau Holles und ihrer Bäume, fand ich auch unter den ältesten Frauen und Männern niemand mehr, der mir hätte Auskunft geben können. Lediglich der Name einer kleinen Straße in Hermeskeil, den ich wie zufällig gewahrte, lautete: "Auf Frau Holl."

Literatur: -Schiephacke, Bruno P.: Mächen, Seele und Sinnt*), 2. Au«., Aschendorf Münster 1983

- Schöpf, Hans: Zauberkräuter, 1. Aufl., Graz 1986

- Herder Lexikon Symbole, 4. Aufl. 1978

- Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 4, Berlin 1987 (Neuauflage)