Kopfweiden

Gerhard Monschewitz, Eschweiler

 

Daß meine Freunde mich mal den "Ostpreußischen Eifelmaler" nennen würden, hat mir niemand an der Wiege gesungen. Auch wußten jene Verse, die ich schon als Kind schrieb, noch nichts vom "Wallenden Born" oder von der "Hustley".

Wenn ich als Kind unsere Kopfweiden skizzierte, dachte ich mit keinem Gedanken daran, dies Paradies zu verlieren. Aber die Kopfweiden faszinieren mich heute, nach über vierzig Jahren noch so sehr, daß ich sie immer wieder male und nun meinen Eifelfreunden von ihnen erzähle.

Gleich hinterm Garten, am Grabenrand, standen sie, unsere Kopfweiden, meine Freunde, fünf Stück. Vorsintflutlich sahen sie aus, waren von Wind und Wetter, Blitz und Donner, Sonne und Mensch, Last und Alter in die Form gebracht, die sie nun hatten. Drei hießen die Alten, zwei die Jungen. Irgendwann muß wohl ein Altersunterschied sichtbar gewesen sein. Aber auch Großvater Balthasar kannte sie nur so, wie sie aussahen. Aufgeplatzt waren ihre kurzen, gedrungenen Stämme, zeigten die hohlen Bäuche. Alle hatten mächtige, klobige Köpfe. Viele Höhlen und Halbhöhlen, teils von außen, teils von innen zugänglich, hatten die Jahrzehnte gebildet und gaben damit vielen Vögeln, Käfern und Insekten Schutz und Wohnung.

Wenn ich im dichten Nebel aus der Schule kam und am alten Torfloch den Weidezaun erreichte, wußte ich genau: Noch dreiundfünfzig Pfähle, dann war ich zu Hause. Aber nach ungefähr zwanzig Pfählen tauchten schon wie übergroße, verwunschene Wesen, die markanten Silhouetten «unserer Kopfweiden aus dem milchiggrauen Schleier auf. An klaren, warmen Sommertagen grüßten mich die Weidenbäume von weitem mit ihren glänzenden Blättern, deren silberweiße Unterseiten wie Lichter blitzten.

Tage der Kindheit im Wald, an Fluß und Moor, in einer Landschaft, deren melancholischer Charakter nicht zuletzt durch die Kopfweiden geprägt wurde. Wo man hinsah, sei es in Haus, Hof, Stall und Feldern, begegnete man den Dingen, die wir aus dem machten, was die Bäume uns gaben. Die Holzernte war da. Großvater Balthasar sagte mir, daß ich fünf Jahre alt war, als die Kopfweiden das letzte Mal geschnitten wurden. Nun bemächtigte Vater Felix sich mit sauberem Sägeschnitt der langen, starken Stangen - es war Winterzeit.

Danach sahen die Weiden mit den Stümpfen an den mächtigen Köpfen wie Fabelwesen aus, denen man die Mützen fortgenommen hat.

"Ein stolzer, alter Hecke" - Kopfweide.

Wenn der erste Ast gefallen war, kam Großvater herbei, zog ihn zur Seite und begann, ihn zu "verwerten". Alle Seitentriebe wurden entfernt und gleich sortiert. Die daumenstarken, verzweigten Ruten wurden als Erbsenreiser aussortiert, sie mußten für die nächsten Jahre bis zur neuen Holzernte ausreichen. Mutter Ida säte jedes Jahr viele Reihen gelbe und süße, grüne Erbsen.

Die etwas stärkeren Zweige wurden ganz entastet. Im Frühling besserte Großvater Balthasar mit ihnen die Flechtzäune aus, reparierte auch Fischreusen und Aalkörbe damit.

Die ganz starken Seitentriebe wurden zu vielerlei Zwecken verwendet. Mutter züchtete viele Rosen und Chrysanthemen. Da brauchte sie manch Pfählchen und manchen Stock als Halt und Stütze.

Die ziemlich geraden Stangen waren als Stiele für Harken, Spaten, Forken, Hacken und Besen sehr begehrt. Jedoch war deren Trocknung eine umständliche Angelegenheit. Sie wurden von der Rinde befreit und zur Lufttrocknung im Schatten aufgehängt. Allerdings mußte an jedes einzelne Stück unten ein schwerer Stein angehängt werden, damit es gerade blieb oder wurde. Monatelang trockneten die Stangen.

Der Ast wurde zu Zaunpfählen zersägt. Wenn jeder zwei starke und zwei schwächere Pfähle ergab, war es eine gute Ernte. Sie wurden später von Vater Felix am starken Ende angespitzt und am schwächeren leicht abgekantet.

Ausgangs Winter wurden diese Pfähle an Bauern verkauft, die sie dringend zum Anlegen neuer Stacheldrahtzäune brauchten, zum Ausbessern vorhandener, schadhafter.

Im feuchten Boden der Elchniederung eingeschlagen, regte sich in jedem Zaunpfahl vom Weidenbaum bald neues Leben. Er begann zuerst zaghaft, dann aber sehr ungestüm, junge Zweige auszutreiben. Damit war der Grundstein für die vegetative Vermehrung dieser Baumart gelegt.

Nun hätte man die Rinde der Pfähle ja vor der Verwendung abschälen können. Dann wäre ein neues Wachstum nicht möglich gewesen. Aber für die paar Pfennige, die damals für einen Zaunpfahl gezahlt wurden, war diese Behandlung nicht möglich. Man hätte die Pfähle auch ein Jahr zum Trocknen liegenlassen können. Aber Zaunpfähle wurden immer sofort gebraucht. Außerdem zerspleißen Weidenpfähle beim Einschlagen in den Boden, wenn sie zu trocken sind.

So ergab es sich, daß von Zeit zu Zeit eine Arbeitskraft abgestellt werden mußte, die alle Zäune abging und mit einem kleinen Zimmermannsbeil die Triebe an den Zaunpfählen entfernte. Wenn man sich nun eine große Domäne vorstellt, die neben der Ackerbestellung noch Rinder- und Pferdezucht betrieb, ergibt sich von selbst die Tatsache, daß dieser Arbeiter sehr lange unterwegs war. Wie schön aber auch zu wissen, daß dieser Arbeitsplatz nicht ^ durch Formaldehyde oder sonstige "Holzschützer" fortrationalisiert wurde, denn damals war die Arbeitsplanung den biologischen Erfordernissen angepaßt.

Wir wohnten an der Gilge. Das ist ein schiffbarer Fluß zwischen der Memel und dem Kurischen Haff. Etwas flußabwärts war das Gilgeknie von Seckenburg. Dort verstopfte jedes Jahr im Frühling und Spätherbst das Treibeis den Fluß und staute das Wasser hoch an. Zur Absicherung gegen Überflutung war die Gilge beidseitig eingedeicht. Bei uns war der Damm besonders hoch und stark. Und doch zog die Angst ein, wenn riesige, beinahe einen Meter dicke Eisschollen begannen, sich auf die Deichkrone zu schieben, der Damm unter dem ungeheuren Druck des Wassers so eigentümlich vibrierte und in unserem Garten Quellen entstanden. Glücklicherweise brauchte ich nicht zu erleben, daß der Deich mal brach. Aber für solche Fälle mußte jeder Damm-Anlieger eine bestimmte Menge Pfähle, Sandsäkke und Faschinen zugriffbereit bevorraten. Faschinen sind Reisigbündel von ungefähr dreißig Zentimetern Durchmesser und sechs Metern Länge, sie mußten jedes Jahr überprüft und ergänzt werden, denn lagerte man sie draußen, verwitterten sie; lagerte man sie geschützt, wurden sie zu trocken und brachen sehr leicht. Zur Herstellung dieser Faschinen wurden große Mengen Reisig benötigt, die zum Teil von der Weiden-Ernte abgezweigt, zum größeren Teil von der Forstverwaltung zugekauft werden mußten.

Was dann trotz aller Aufteilung noch von der Kopfweiden-Ernte übrig blieb, wurde auf ungefähr vierzig Zentimeter Länge zerhackt und mit dünnen Weidenruten gebündelt. Die Winter bei uns waren lang und kalt und die Hauptnahrung unseres Kachelofens diese Reisigbündel. Dafür wärmte er nicht nur unsere Stuben, auch unsere Seelen, wenn wir träumend auf der Ofenbank saßen.

Manchmal hatte sich ein starker Weidenast beim Wachsen nach einigen Metern schön gleichmäßig gegabelt. Diese V-Zeichen waren sehr begehrt. Man benutzte sie, unter Verwendung eines Nackenriemens, Kühe daran zu hindern, aus der Weide auszubrechen. Sie waren so selten wie eine Kuh, die durch Stacheldrahtzäune hindurchkroch. Aber es gab sie. Weit, sehr weit zurück liegt die Zeit, als Vater und Großvater mir zeigten, wie man aus den Zweigen der Weide eine Flöte macht. Kein Katapult und kein Flitzbogen ziert mehr meine Wand. Ich weiß aber noch wie es war, wenn der Hahn vor dem Habicht warnte. Dann liefen alle Kleintiere schnell zu den Kopfweiden und suchten Schutz in ihren hohlen Stämmen.

Nach dem langen Winter topfte Mutter ihre Zimmerpflanzen um. Das waren damals überwiegend Zimmertannen, Zimmerlinden und die verehrte Myrte. Jetzt wurde gute Blumenerde gebraucht. Auch diese lieferten unsere Kopfweiden. Im Innenraum der aufgeplatzten Recken entstand sehr nahrhafte Erde. Es war eine Mischung aus vermodertem Holz, Blättern und Planzen. Aber spätestens wenn die ersten Kiebitze von der nahen Feuchtwiese riefen, mußte die Erde geholt werden. Danach kamen sehr bald die gefiederten "Mieter" der Kopfweiden und bezogen ihre Wohnungen in 'den diversen Höhlen und Halbhöhlen. Das war ein Balzen, ein Gezänk und Nistmaterialschleppen von früh bis spät. Wenn dann die Eier gebrütet wurden, setzte der große Gesang der stolzen werdenden Väter ein; Vogelkonzerte, denen zu lauschen wir uns Zeit nahmen.

"Gnadenbrot" - uralte Kopfweide.

Ölbild auf Leinen gemalt.

 Ganz lustig wurde es, wenn aus den teilweise sehr nahe beieinander liegenden Bruthöhlen die Vogelkinder ihre Köpfe herausstreckten. Sobald ein Elternteil mit Futter im Schnabel angeflogen kam, rissen alle kleinen Nestlinge ihre Schnäbelchen auf und schrien aus Leibeskräften. Manchmal waren die Altvögel sichtlich irritiert. Aber egal, wer da wen fütterte, alle wurden satt, alle wurden groß.

Auch an den Kopfweiden selbst regte sich neues Leben. Wieder erschienen neue Triebe in vielfacher Zahl, von denen jeder Weide eine Anzahl zum "Auswachsen" belassen wurde.

Tage der Kindheit, Tage unbeschwerten Glückes.

Räumlich ist nun alles so weit entfernt. Aber die Erinnerung ist eine schöne Brücke.