Neu im Dorf

Hans Illgen, Neroth

 

"Ja, mein Herr, Ihre Vermutung stimmt, bin vor einiger Zeit zugezogen", antwortete ich dem älteren Herrn, den ich bei einem Rundgang am Wasserlauf der kleinen Kyll traf, die hier mitten durch den Ort fließt.

"Richtig, komme aus der Großstadt!" "Nun, so an die eine Million Einwohner leben in den Mauern der Stadt", gab ich zur Antwort. Ob es für mich eine Umstellung sei, wollte er weiter wissen. "Wie man es nimmt, und außerdem hatte ich mich auf den Ortswechsel seit einiger Zeit vorbereitet", gab ich bereitwillig Antwort. Der Mann machte mir den Eindruck, als wolle er nur etwas reden, meine Antworten schienen ihn kaum zu interessieren. War ja auch nicht wichtig. "Doch, doch", bekannte ich nach seiner neuerlichen Frage, "einige Leute habe ich schon kennengelernt". "Wichtige?" "Was meinen Sie mit wichtigen?" wollte ich von meinem Fragesteller wissen. "Ach so, diese, nein, hatte noch nicht das Vergnügen", bemerkte ich. "Und überhaupt", wandte ich mich etwas geziert an ihn, "die wichtigsten Personen in einem Dorf - der Herr Pastor und der Herr Lehrer -fehlen ja auch hier im Ort, wie ich leider feststellen mußte." Darauf sagte mein Gesprächspartner keine Silbe; war mir auch recht. "Ich konnte aber in der relativ kurzen Zeit, in der ich hier wohne, eine Feststellung machen", sagte ich etwas gelangweilt, "es gibt eine Anzahl von Dorfbewohnern, die Autos der gehobensten Nobelkategorie durch die Gegend chauffieren, vielleicht sind das die wichtigen Leute, die Sie meinen, und die ich noch nicht kenne"? Dabei stellte ich fest, daß er süffisant über meine Feststellung sinnierte. "Einer, ja einer, war für mich wichtig", setzte ich meine Unterhaltung fort, "ich sage deshalb WAR, weil es nun endlich bei mir tief sitzt. Er brachte mir in freundlicher Hartnäkkigkeit bei, daß jeden Dienstagnachmittag alle Geschäfte geschlossen haben und niemand dieses Gesetz breche." "Das stimmt", sagte der Herr lakonisch und zündete sich eine Filterzigarette an. "sicher", so meinte er weiter, "wenn Sie mal etwas vergessen haben, und man kennt sie hier besser, dann kann man auch schon mal an die hintere Tür klopfen, und es gibt auch etwas". Er erweckte dabei den Eindruck, daß er hier keinerlei Schwierigkeiten habe.

"Es ist für einen Stadtmenschen wichtig, sich an die hiesigen Verhältnisse zu gewöhnen. So etwas gibt es ja nicht in der Großstadt, daß dort ein Laden nachmittags dicht ist; es sind ja meistens nur Pächter und da steht die Freizeit an letzter Stelle", schloß er seinen wohlformulierten Satz und schaute in« die tosende Gischt der kleinen Kyll,. die nach Regenfällen bedenklich ansteigt.

Ehe der fremde Herr noch weitere Vergleiche anstellen konnte, wünschte ich ihm einen schönen Tag und sagte ganz beiläufig, daß ich noch ins Gotteshaus wolle. "Es ist aber jetzt keine Messe", rief er mir noch nach. "Ich weiß", antwortete ich und übertönte mit meiner krächzenden Stimme den rauschenden Wasserfall der kleinen Kyll. "Ich liebe bei meinen Gebeten die räumliche Stille". Ob er mich noch verstanden hatte?

Schade, dachte ich, als ich den großen, noch ein wenig nach Weihrauch und Kerzenwachs duftenden Kirchenraum betrat, schade, daß es hier keinen "Hausherrn" mehr gibt, nur einen, der hin und wieder mal vorbeikommt und seinen Gemeindeschäfchen den Eindruck vermittelt, daß er da ist.

Als Neubürger würde man das Gespräch suchen, ihn eventuell um einen guten Rat bitten oder über andere, notwendige Dinge reden...

Ich war allein im Hause Gottes und in meinem Gebet vertieft und doch... über 2 Millionen Arbeitslose in unserem Land, ging es mir durch den Kopf, und hier fehlt der Pastor. Gut, er fehlt nicht im eigentlichen Sinne, aber auch ein Pastor kann sich nicht vierteilen oder wieviele Teilungen müßte ein Geistlicher über sich ergehen lassen, um bei den Hl. Messen in den zu betreuenden Gotteshäusern gleichzeitig zugegen zu sein? Oh, mein Gott, ich stelle mir heute wieder die kompliziertesten Fragen. Antworten bekomme ich ohnehin keine.

Früher, als die Dorfbevölkerung noch gleich reich war, der Pastor noch Hühner, Kaninchen und eine Ziege hielt, selbst die Wiese mähte und genügend Kartoffeln für die Winterzeit aus dem Pfarrgarten bezog, da war die Dorfwelt irgendwie noch in Ordnung. Ja, früher! Früher waren die Pastoren auch noch nicht so aufgeklärt, schlummerte die Television noch in Erfinders Schoß. Auto! Zur Firmung wurde der Herr Bischof am Dorfeingang erwartet. Der kam mit dem Auto und einem Chauffeur, versteht sich, angereist. Fast einen halben Tag lang konnte das blitzende Vehikel von allen bewundert werden. Gegen Spätnachmittag fuhr der hohe Gast wieder ab und alle standen am Straßenrand, winkten artig zum Abschied. Im Dorf war wieder Ruhe. Man träumte noch lange vom schönen Auto des Herrn Bischof - auch der Pastor. Das hat sich gewaltig geändert. Zum Wohle für alle? Gut, der Herr Pastor hat nun auch ein Auto, soll er doch. Seinen Farbfernseher, warum auch nicht? Eine Kühltruhe, eine Waschmaschine... dafür hat das Dorf aber keinen Pastor mehr.

Ich komme wieder nicht zum Beten. Immer muß ich darüber nachdenken, was auf dem Spickzettel eines heutigen Pastors alles steht:

Im Dorf S. ist für Dienstag eine Frauenbe-freiungs-Bewegung angesagt, die im Pfarrgemeindesaal stattfindet. Vom eingeladenen Pastor erwartet man zu den Themen - Das Rätsel der Frau. Frauen über Frauen. Frauen unter Frauen. Frauen am Mikrowellenherd. - passende und nachhaltige Worte.

In der Ortschaft W., fast 12 Kilometer von S. entfernt, gibt es ein nicht alltägliches Fest; das der Diamantenen Hochzeit. Anlaß genug, nach dem feierlichen Hochamt, sich in die Gratulantenschar einzureihen. Gäste, Freunde, Ortsvereine und der Kirchenchor wurden in den Dorfkrug eingeladen. Vor dem großen "Schmaus mit Tanz" die obligatorische Laudatio, Referent: Herr Pastor. Es wird spät an diesem schönen Abend, doch da muß ein gestreßter Seelsorger durch. Weitere Termine stehen an, einer wichtiger als der andere und ohne Murren nimmt der Herr Pastor alle wahr.

Ich brachte mein Gebet nun doch zu ende, ging dann hin zum Gekreuzigten, sah ihn lange an und es kam mir vor, als höbe er enttäuscht seine nackten Schultern. . .

Ich verließ die Kirche in tiefen Gedanken, eine schöne Kirche, mitten im Dorf. Eine geraume Zeit ist vergangen, daß ich als neues, "altes" Schaf in die Dorfherde einweidete. Der diensttuende Hirte hat bislang noch keinerlei Notiz von mir genommen. Tragödie? Quatsch! Wer mit den Schafen weidet, muß auch mit den Schafen (heulen) blöken.

Wunder, oh Wunder, die ersten heimkehrenden Schwalben segelten und frohlockten mit ihren schrillen Schreien über die Dächer des Dorfes. Sie fanden ihre Kinderstube in den Stallungen und Scheunen wieder, werden bis zum sterbenden Sommer von früh bis spät unsere steten Freunde sein und uns mit ihren unnachahmlichen Flugkünsten begeistern. Die Kreatur, Gottesgeschöpfe, holen mich aus meiner Nachdenklichkeit heraus und plötzlich ist meine Liebe zu all den schönen Dingen, die wir hier auf Erden haben, zurückgekehrt. Wie schön und friedlich, sage ich zu mir selbst, als ich auf der Höhe angekommen bin und blicke über die gewaltige Szenerie, die sich mir darbietet; eine Schönheit, die mir in Wehmut das Herz verklärt. Rauch steigt aus den Schornsteinen der Wohnhäuser, wo noch mit viel Liebe am Herd das Mittagsmahl bereitet wird. Frieden! Welch ein klingendes Wort in der großen Hoffnung, es noch lange, sehr lange so feierlich aussprechen zu dürfen.

Ich mag das Dorf, seine Menschen, ich liebe die Eifel, mein neues Zuhause, als hätte ich immer hier gelebt. Gott habe Dank!