"Schäwesch Böömche"

Auch ein Riese muß einmal sterben

Theo Pauly, Gerolstein

 

Wie kommt es, daß man einen Baum, dessen Stamm etwa drei Meter im Umfang mißt, als "Bäumchen" bezeichnet? "Schäwesch Böömche" beherrschte in der Zeit meiner Kindheit weithin sichtbar die Flur östlich der Hilgerather Kirche, etwa 500 Meter von dieser entfernt auf gleicher Höhe. Nur wenige konnten sich dazu durchringen, dieses Gewächs als das zu bezeichnen, was es darstellte, als Baum. Für wenige war es "Schäwesch Boom", für die meisten immer noch, wie wohl auch vor einigen hundert Jahren, "Schäwesch Böömche". Die knorrige, uralte Buche breitete ihr gewaltiges Laubdach über eine Wegekreuzung; sie war mitten auf dieser Kreuzung plaziert. Da die Flur, die hier auch die Bezeichnung "an" oder "bei" Schäwesch Böömche oder Boom trug, gemeindeeigenes Land war, hatte man genug Platz gelassen, daß vollgeladene Erntewagen den Baum in gebührendem Abstand umfahren konnten. Wie er zu seinem Namen und überhaupt an diese exponierte Stelle kam, gibt phantasiereicher Überlegung ausreichend Raum. "Schäwesch" bedeutet im Hochdeutschen "Schäfers". Es ist vorstellbar, daß ein Schäfer, der mit seiner Herde die Heidelandschaft durchzog und beweidete, hier einen Baum pflanzte, oder aber einen schon hier wachsenden benützte, um Schatten für sich und seine Tiere zu finden oder Unterschlupf vor Regenschauern. Vielleicht hat er auch hier jeweils seinen "Stiefel" auf- und seinen Schäferkarren untergestellt. Weit reichte von hier aus sein Blick über die Eifelhöhen, im Norden nach Boxberg, im Osten hinüber zum Hochkelberg, zur Nürburg und Hochen Acht, im Süden bis zu den Höhen des Hunsrücks, im Westen bis hinein in die Ardennen. Zu seinen Füßen erblickt er die kleinen Struthdörfer Beinhausen, Neichen und Kradenbach. Zu seiner Zeit hätte er auch die sogenannten "Notfeuer" unweit der Nürburg im Nordosten, der Altburg bei Daun und dem Mosenberg im Süden ausmachen können. Dr. Peter Blum, geboren und aufgewachsen in Beinhausen und später Amtsbürgermeister in Bausendorf, schreibt in "Dorf am Lieserquell": "Nicht alle Ortsnamen in der Eifel die auf "-rath" endigen, haben mit einer Rodung etwas zu tun, sondern sind auf "-rath" = Burg zurückzuführen. Diese "Burgen" waren keine Schlösser oder Festungen, sondern Hochwarten mit Feuersignalen, die beim Heranrücken des Feindes den Bewohnern sofort Kunde gaben von der Gefahr. Dieses Notfeuer hatte sich im übertragenen Sinne im früheren "Burg- und Hüttenbrennen" am ersten Fastensonntag erhalten. Auf dem Dreesberg bei Beinhausen gibt es darum heute noch die Bezeichnung Hüttenplatz. Durch das Netz der Feuersignale konnte jedem Eifel- und Ardennenbewohner vom Rhein bis nach Gallien und an den Ozean in 1 1/2 bis 2 Stunden ein feindlicher Überfall mitgeteilt werden. Die nahe Verbindung Hilgeraths mit der Nürburg über nur eine Zwischenstation bei Höhe 613 im Surbüsch ist deswegen besonders wertvoll, weil die Nürburg mit dem Drachenfels als ein Knotenpunkt des rheinischen Warn-Netzes galt und auch der römischen Landvermessung zugrunde lag."( Dr. Peter Blum, Dorf am Lieserquell, 1945, unveröffentlicht).

Jedenfalls war diese gewaltige Buche mit ihrem mächtigen Geäst und riesigen Blätterdach ein weithin sichtbares und auch anheimelndes Wahrzeichen, das behördlicherseits unter Denkmalschutz gestellt worden war. Wie oft mag der Blitz im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte in diesen auf windiger Höhe einsam stehenden Baum gefahren sein! Als Kinder konnten wir durch das Innere des Stammes hinauf ins knorrige Geäst klettern, so sehr hatten Blitzschlag und wohl auch daraus entstandene Brände den Stamm ausgehöhlt. Die Innenwände der Höhlung wiesen jedenfalls zahlreiche Brandspuren auf und man hätte den hohlen Stamm mit einem Kamin vergleichen können. Und dennoch hatten die Naturgewalten den Riesen nicht fällen können. Wuchtig und tief verwurzelt hielt er dem Wüten der Stürme, die zu allen Jahreszeiten über die Eifelhöhen hinwegbrausen, stand. Vor allem im Herbst fanden viehhütende Kinder oder auch kartoffelgrabende Bauern unter seinen Fittichen oder in seinem ausgehöhlten Stamm Schutz vor Regenschauern und Windstößen; gern wurde unter ihm das Essen aus dem Henkeltopf eingenommen. Da die Herbsttage schon recht kurz und der Weg nach "Schäwesch Böömche" recht weit war, verblieben die Leute tagsüber auf dem fernen Kartoffelacker bei Schäwesch Boom und die Kinder brachten Essen und Kaffee zur Mittagszeit hinaus aufs Feld. Uns Kindern war eingeschärft worden, nur ja kein Feuer in der Nähe dieses Baumes anzuzünden, und erst recht nicht im hohlen Baumstamm, obwohl gerade hier das Abbrennen eines Feuerchens gereizt hätte. Doch nie haben wir dieses Tabu durchbrochen. Aus den Mahnungen der Alten mag herausgeklungen haben die Sorge um den Erhalt eines schon von den Vorfahren geschätzten Denkmals. Aber dann hat es doch einer fertiggebracht, diesem uralten Baum den Todesstoß zu versetzen.

Man kann ahnen, was die Beweggründe für diese Freveltat waren. Andre war ein französischer Kriegsgefangener, der bei einem Bauern in Beinhausen arbeitete, ein bärenstarker und fleißiger Mann. Die Feldarbeit ging ihm zügig von der Hand; vielleicht hatte er in Friedenszeiten auch einen Hof zu bewirtschaften in der Bretagne, der Normandie, der Champagne oder der Provence. Was sein zivilier Beruf war, hat nie ein Deutscher von ihm erfahren. Ergabsich stets todernst, bärbeißig, äußerst wortkarg -Befehle gab er den Pferden oder dem Vieh, wenn er mit diesen zu tun hatte - er hatte nie ein Wort, weder ein freundliches noch ein abweisendes für uns Kinder, auch wenn wir ihn, stolz auf unsere Französischkenntnisse, freundlich mit "Bongschur Mößjöh" grüßten, wie wir das auch mit den anderen französischen Kriegsgefangenen im Dorf hielten. Die anderen grüßten stets freundlich zurück, bei Andre konnte man den Eindruck haben, er empfinde den Gruß als Beleidigung. So mochten wir Kinder ihn nicht, hatten aber riesigen Respekt vor ihm.

Andre hatte auf einem Acker in der Nähe von Schäwesch Böömche Kunstdünger gestreut. Wir Kinder waren in diesen Kriegstagen angehalten, Kalk- und Kunstdüngersäcke, die damals noch alle aus Papier gefertigt waren, zu sammeln, ebenso Lumpen, Eisen und Knochen. Normalerweise ließen die Bauern die leeren Kunstdüngersäcke dort liegen, wo sie sie gebraucht hatten, wir zogen durch die Flur, sammelten sie ein und lieferten sie an der Sammelstelle ab. Anders Andre! Er verbrannte stets die leeren Papiersäcke, wollte offensichtlich denen, wo er Gefangener war, in keiner Weise behilflich sein, den Krieg zu gewinnen. Er hat nicht einmal die Arbeit, die er für oder bei "seinem" Bauern tun mußte und offenbar auch gern tat, sabotiert. Im übrigen hat er wohl versucht, dem "Feind" zu schaden, wo er konnte. Und so verbrannte erdie Papiersäcke just in diesem hohlen Baum. Ich spreche ihm die Absicht nicht ab, die denkmalgeschützte Buche zerstören zu wollen. Einmal beobachteten wir Kinder, in einigen hundert Metern Entfernung die Kühe hütend, wie aus der Krone von Schäwesch Böömche Rauch aufstieg. Nichts Gutes ahnend hatten wir unsere Kühe im Stich gelassen und waren hingerannt. Und richtig! Im hohlen Stamm des Baumes züngelten hohe Flammen von brennenden Kalktüten, die Andre, der in der Nähe Dünger gestreut hatte, in der Höhlung deponiert und angezündet hatte. Da er wieder bei seinem Gespann war, brauchten wir uns nicht zu fürchten, und wir versuchten, das brennende Material mit Stöcken aus der Baumhöhle herauszuscharren. Das war uns auch gelungen, aber das Holz des Stammes glühte innen weiter, wir wußten nicht, wie wir löschen sollten. Wasser gab es keines in der Nähe, und Behälter hätten wir sowieso nicht gehabt, um Löschwasser zur Brandstelle zu transportieren. Wir waren sehr traurig darüber und schimpften lauthals über den "bösen" Franzosen, immer darauf achtend, daß er uns nicht hörte, denn in dieser Situation hatten wir besonders Angst vor ihm.

So glühte und glimmte nun das Feuer im hohlen Stamm der alten Buche weiter und zerstörte die noch relativ dicken Reste des Stammes.Andre aber war damit nicht zufrieden. Am anderen Tag streute er wieder Kunstdünger, diesmal weiter entfernt, aber so flei Big er auch bei der Arbeit war, die Zeit nahm er sich, alle leeren Kunstdüngersäcke zu Schäwesch Böömche zu tragen und erneut Feuer zu legen. Diesmal hatte er es geschafft! Als ein paar Wochen später wieder einer der wüsten Herbststürme über die Höhen der Eitel fuhr, hatte der alte Baumveteran nicht mehr die Kraft, diesem zu wiederstehen. Eines Morgens lag er da, und "Schäwesch Böömche" war nicht mehr. Nun gibt es nur noch die Abbildung eines Amateurfotografen, die von ihm Zeugnis gibt, aber auch die Flurbezeichnung "bei Schäwesch Böömche" oder "bei Schäwesch Boom" und spätere Generationen werden darüber rätseln, was für ein Baum da wohl mal gestanden haben mag.

Mittlerweile ist seit der Entstehung dieser Geschichte einige Zeit ins Land gegangen, und siehe da, es gibt noch Leute, die Vergangenes nicht einfach Vergangenes sein lassen, sondern versuchen, Bewährtes zu erneuern oder wiederherzustellen. Der für das Revier Beinhausen zuständige Forstbeamte hat an gleicher Stelle eine junge Buche gepflanzt. Nun gibt es wieder ein Schäwesch "Böömche". Möge ihm vergönnt sein, auf windiger Eifelhöhe zu gedeihen, zu Nutz und Freude der Beinhauser Leute, vor allem möge ihm in ferner Zeit ein natürlicher Tod beschieden sein.