Heimat und Literatur

Träume

Margaretha Rosar, Leverkusen

 

In meinen Träumen bin ich immer daheim. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich merkte, daß alle meine Träume zu Hause spielen, das heißt, in Gerolstein. Aber nicht so, wie es heute ist, sondern wie es einmal war. Unser Haus ist ganz, die Wohnung, der Keller, der Speicher, der Garten, der Weg, sogar die Treppen zur Kirche sind für mich im Traum gleich mühsam, 107 Stufen; im Winter sehr rutschig, sodaß ich mich immer am Geländer raufziehen mußte. Hintenrum, den steilen Kirchweg rauf, war es zu weit und ebenfalls zu glatt.

Ich träume farbig! Neulich sah ich im Traum die dunkelblauen Waldbeeren wachsen, es waren so viele, wie ich in meiner Jugend niemals beieinander fand. Außerdem wuchsen sie an der Hustley, das stimmt in Wirklichkeit nicht, ich ging immer an die Büschkirche pflücken, bis zur Dietzenley hinauf.

Ich habe mir also im Traum die Waldbeeren dahin geträumt, wo sie für mich leichter erreichbar waren. Die Wohnungen meiner Mitschülerinnen sind für mich im Traum alle noch so, wie sie früher waren.

Ich streife durch die Gärten, reiße Blumen ab vorm Hotel Dolomit - jetzt längst zu anderen Zwecken umgebaut - und bringe sie meiner Mutter. Sie mochte die wilden Blumen nicht so. In meinem Zimmer in der Ecke hatte ich einen Mai-Altar. Eine kitschig bunte Madonna mit blaugoldenem Mantel stand da. Alle Wassergläser, die nicht mehr so schön waren, verwendete ich als Blumenvasen. Darin steckte ich Schlüsselblumen, Wiesenschaumkraut, Butterblumen (die zu schnell ihre gelben Blüten verloren) und echte Veilchen. Den Platz, auf dem die echten Veilchen wuchsen, hielt ich streng geheim. Den sollten die Nachbarskinder nicht finden. Heute würde ich all die Blumen nicht mehr pflücken.

Vom Feldschütz träume ich, mit seinem widerwärtigen Hund, der auch noch "Prinz" hieß. Ich hatte große Angst vor den Beiden. Verstehen konnte ich nie, daß ich ab 1. Mai nicht mehr auf die Wiesen durfte, aber für Fronleichnam, das viel später war, doch. Wir strüppten die Blüten ab und wurden belobigt, wenn in Farben getrennt abgeliefert wurde. Bunte Blüten waren weniger wert. Ich fühle noch die samtige Oberfläche des Ginsters in meiner Hand. Meine Blüten lieferte ich beim Bauer Schü ßler ab, der uns auch die Milch brachte. Sie kamen in große Bütten in den HcJ. Schüßlers hatten stets einen wunderschönen Altar in einer Hausecke, etwas zurück von der Hauptstraße. Ich spüre auch noch den sanften Widerstand der Blüten unter meinen Füßen; denn wenn die Prozession vorbei war, durften wir über den Blumenteppich laufen. Aber wir liefen nicht, wir schritten. Niemals vorher oder bei anderen Gelegenheiten habe ich "schreiten" geübt.

Dann beobachtete ich den Maler Blooss. Mit einem Schlapphut bewehrt, sommers und winters gegen Schnee, Regen und Sonne. Ich kenne nur ein fertiges Bild von ihm, ein Motiv mit riesigen alten Bäumen und einem müden Fahnenträger.

Der Pastor Rader ist noch in meiner Netzhaut. Überhaupt fand ich, daß die Religionen auf unserem Schulhof friedlich diskutierend in der Hauptpause nebeneinander gingen. Der Rektor, der evangelische Pfarrer, unser Pastor und früher manchmal auch der Rabbi, der wohl zum Religionsunterricht an unsere Schule kam. Ich weiß noch, wie der Zeichensaal, in dem wir Theater spielten, aussah; aber die Treppe hinter der Schule steil hinauf war damals keine richtige Treppe, sondern eine rutschige Rinne mit schlechtem Geländer zum Festhalten. Mir fällt auf, daß ich nicht vom Turm der Kettenburg träume, denn dort gab es Fledermäuse und es war so richtig gruselig; also lasse ich in der Hauptsache "geschönte" Erinnerungen durch. Ins Müllenwäldchen gingen wir poussieren, so nannte sich das damals. Aber ich ging auch auf den Friedhof in Sarresdorf. Dort gab es eine Bank unter der Hängeweide, deren Zweige tief herunterreichten. Ich fürchtete mich nicht vor Toten, es kam auch niemand nach Einbruch der Dunkelheit an diesen friedlichen Ort.

Auf der Munterley war unser Spielrevier. Die Felsen vorn raufzuklettern war eine Mutprobe für uns alle. Heute stehe ich fassungslos davor und frage mich, wie ich das damals wagen konnte. Gut, daß meine Eltern nichts davon wußten. Alle diese Wälder, Straßen, Plätze, Wohnungen, Menschen, kommen immer wieder in meinen Träumen vor.

Ich höre buchstäblich Breuers Karl in die Tasten der Orgel greifen und das erfüllt mich auch im Traum mit Ehrfurcht und Beklommenheit. Mich trennen viele Kilometer und Jahrzehnte von diesen Eindrücken, aber sie bilden den Grundstock meiner Nächte und Träume.

Und alles ist ganz.

Nichts zerstört.