Der zugeworfene Brunnen
Nach einer Gerolsteiner Sage
Wilma Herzog, Gerolstein
Im Felsverlies liegt mit gebundnen Händen, |
verurteilt ohne Gnade, still ein Mann. |
Sein Leben soll des Henkers Beil beenden, |
sein Ruf: "Nicht schuldig!", nahm kein Richter |
an.
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Der Neid, die Mißgunst traten auf als Zeugen |
mit scheelen Augen auf des Mannes Gut, |
sie wußten tief sich vorm Gericht zu beugen, |
dem, der die Wahrheit kannte, fehlte Mut.
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Der Brunnen liegt im warmen Sonnenstrahle, |
sein Wasser kommt aus Tiefen, klar und rein, |
Erfrischung bringt es Mensch und Tier im Tale, |
nur der Gefangne soll zur Strafe durstig sein.
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Des Schöffen Tochter geht mit raschen Schrit- |
ten, |
trotz der Verbotes, zu dem Brunnen hin |
und füllt den Krug für den, der viel gelitten; |
dem Manne helfen füllt des Mädchens Sinn.
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Denn Reiche lassen kein Erbarmen walten, |
und Mitleid wäre Rostfraß an der Macht. |
Wer sie besitzt, der trachtet sie zu halten |
und scheut dafür kein Bündnis mit der Nacht. |
Die Armen können trösten, wollen heilen, |
sie kennen Ungerechtigkeit und Pein |
und Frauen sind darunter oft, die eilen |
zu helfen ohne Frage, was bringts ein.
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In reichen Roben auf den hohen Stühlen |
sitzen sie stolz in exaltierter Pracht |
und lassen ihn wie andre vor ihm fühlen, |
daß Tod und Leben liegt in ihrer Macht. |
So führt man diesen Mann bergan zu Stätte, |
selbst unterwegs verhöhnt die Menge ihn. |
Er bittet, daß ihm Gott die Seele rette, |
der doch den Gnadenlosen nichts verziehn.
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Er sieht den Schergen aufsein Beil sich stützen |
und ruft den Schöffen zu, die um ihn stehn: |
"Der Korb für meinen Kopf wird euch nichts |
nützen, |
als Zeichen meiner Unschuld wird er talwärts |
gehn.
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Ohn' Rat der Fraun, ohn' Gnad ließt ihr euch |
treiben! |
In meines Fluches Fesseln bleibt! Ich finde |
Ruh! |
Es ist die Stadt ratsarm und wird es bleiben!" |
Der erste Schöffe schrie darauf: "Schlag zu!"
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Der Henker holte aus, und voller Schauer |
sehn alle mit dem Schlag ihr Unrecht ein, |
der Kopf des Unschuldigen springt bis zur |
Mauer |
und springt und fällt vom Fels ins Tal hinein. |
Die Furcht und das Entsetzen lahmt die Zun- |
gen, |
so gehn sie schweigend, voller Schuld, ins Tal. |
Das Haupt des Toten finden sie im Brunnen, |
von seinem Blut gefärbt des Wassers Strahl.
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Da niemand mehr vom Brunnen trinken wollte, |
versiegelten sie ihn am gleichen Tag. |
Ein Kreuz aus Stein steht, wo das Haupt hinroll- |
te; |
zur Sühne duldeten sie Leid und Plag. |
Ein jeder, der die Stadt weiß, kennt die Sage; |
wirkt nun der Fluch fort oder nicht? |
Seit jener Zeit sucht Antwort diese Frage, |
des Rates Wirken fördert sie ans Licht. |