Zum Dingmarkt nach Prüm (1924)

Wilma Herzog, Gerolstein

 

Beim Bett stehen die polierten Sonntagsschuhe. Frischgebürstet hängt der Mantel am Haken der Zimmertür. Das blaukarierte Kattunkleid, gestern erst von Katharina, der ältesten Schwester, fertiggenäht, liegt über dem einfachen Holzstuhl.

Jetzt ist alles bereit, denkt Maria und geht zum Fenster. Sie löst ihre schweren blonden Flechten für die Nacht und schaut zum Abendhimmel hinaus. Grau liegt er mit einem zarten rötlichen Schein nach Westen hin über dem winterlich ' dunklen Wald, darunter jetzt leicht schneebedeckt die Wiesen. Dort hat sie noch im Herbst die Kühe gehütet. Es ist kalt im Zimmer. Morgen ist Stefanstag, der 26. Dezember. Dann ist es also soweit. Angst drückt ihr auf den Magen. Wie wird es auf dem Dingmarkt ausgehen? Ob ein Bauer sie einstellt?

Mit ihrem Vater hat sie alles besprochen. Sie will jetzt etwas für die Familie tun, genau wie andere in ihrem Alter. Die sagen, es gibt dann einen Esser weniger daheim.

Daheim, das ist für sie die Eifel, und die gibt ihren Menschen meist nur karges Brot. Bitterarm waren viele, bis die Eisenbahn kam. Da versuchte mancher Familienvater durch Korbflechten oder Waldarbeit ein Zubrot zu verdienen, denn der lehmige Boden gibt wenig her bei den einfachen Arbeitsgeräten und der spärlichen Düngung. Seit sie bei der Bahn arbeiten, gibt es für manchen Kleinbauern dort ein geregeltes, wenn auch schmales Einkommen. Dafür müssen weite Fußmärsche in Kauf genommen werden. Bei Wind und Wetter gehen die fleißigen Männer gut 8 Kilometer bis zum Arbeitsplatz an der Bahn. Ihre Frauen tragen manchmal etwas Butter oder ein paar Eier genausoweit zum Verkaufen. Was sie feilbieten, ist kein Überfluß. Es gibt wenig Milch, denn die Kühe sind auch Zugtiere. Die Äcker an den steilen Hängen zehren an der Kraft der Tiere, und es gibt viele Münder, die gestopft werden müssen. Maria weiß das. Deshalb wird sie morgen mit ihrem Vater nach Gerolstein gehen, von da mit dem Zug nach Prüm fahren um dort auf dem Dingmarkt Arbeit zu suchen.

m Bett kommt kein Schlaf, zu vielschichtig sind ihre Gedanken. Froh, jetzt endlich mehrfürihre Familie tun zu können, ist es ihr doch vor dem Unbekannten, das auf sie zukommt, bang. Hellwach hört sie Hundegebell aus der Nachbarschaft und dann den Vater, der wie allabendlich kurz vor dem Zubettgehen seinen Gang zum Stall macht, um dort nach dem Rechten zu sehen. Ich will beten, denkt sie, dann überlasse ich dem lieben Gott alles, was ich nicht überblicken kann. So hat sie es von den Eltern gelernt. Nach ihren besonderen und den gewohnten Gebeten schläft sie auch ein. Am Morgen ist sie beizeiten in der Küche. Auch dort ist es noch kalt. Die Fensterläden werden geöffnet. "Über Nacht hat es geschneit", sagt die Mutter, die im Herd Feuer anzündet. "Willst du wirklich gehen?" fragt sie und schaut ihre Tochter eindringlich an. "Ja", antwortet das Mädchen und versucht ein Lächeln. "Sorg dich doch nicht so um mich!"

Der Tisch ist gedeckt, als der Vater kommt. Er nimmt das große, runde, von seiner Frau gebackene Brot in die Hände und zeichnet mit dem Messer ein Kreuz darüber, bevor er es anschneidet.

Das Frühstück ist fast vorbei, bis man am Tisch die Wärme vom Herd spürt. Vater und Tochter drängen zum Aufbruch. Die Mutter geht mit ihnen bis zur Küchentür, taucht zwei Finger in das Weihwasserkesselchen und zeichnet Maria ein kleines Kreuz auf die Stirn. "Geht mit Gott", sagt sie und begleitet sie zur Haustür. Ein schneidender Wind empfängt die drei. Gedankenvoll schaut die Frau den beiden nach. Dann dreht sie sich ruckartig um, sie muß in den Stall, um die Kühe zu melken, danach werden die jüngeren Kinder versorgt.

Der frische Schnee knirscht unter den Schritten von Vater und Tochter, die durch das stille Dörfchen gehen. Hier und dort dringt Licht aus einem Fenster oder einer Stalltür, ein paar Schornsteine qualmen, ein wachsamer Hund schlägt an. Sie gehen auf den dunklen Wald zu. Heute ist die unebene Schotterstraße durch den frischgefallenen Schnee etwas gepolstert. Oben begrenzen die Spitzen der hohen Fichten zu beiden Seiten einen schmalen Himmelsweg. Der Vater treibt zur Eile, der Weg ist noch lang, der Zug wartet nicht. Besser etwas früher ankommen. Sonst reden sie nicht, jeder hat seine Gedanken. Leise fällt neuer Schnee.

Auf dem Gerolsteiner Bahnhof herrscht schon reger Betrieb. Gerade fährt die Dampflok ein. Fauchend zieht sie an den zurücktretenden Fahrgästen vorbei bis zu ihrem Haltepunkt. Viele steigen in die 4. Klasse mit den seitlich angelegten langen Bänken ein, "Reisende mit Traglasten". Sie bringen Körbe mit, manche haben Hühner dabei, die in engen Käfigen aufgeregt flattern. Das Ziel ist eindeutig der Prümer Markt. Maria und ihr Vater finden Platz auf den Holzbänken der 3. Klasse. Abpfiff. Ruckend setzt sich der Zug in Bewegung. An jedem Bahnhof der Strecke hält er mit viel Getue wieder an, um weitere Menschen einsteigen zu lassen. Die verschiedensten Dialektformen klingen den beiden in die Ohren. Der Schaffner kommt, die Fahrkarten werden gelocht. Freundlich begrüßt er den Vater, natürlich auf Platt. Er ist ein Kollege. Ein paar Burschen stimmen eine kecke Weise an: "Op dem Prümer Maat, do hammer vill Pläsier, do jämmir Bouere voll baal jede Kier". Maria und ihr Vater lachen. Sie reibt mit dem Ärmel die beschlagene Fensterscheibe vom Dunst frei und schaut in die vorübereilende, ihr unbekannte Landschaft.

Die Wangen des Mädchens sind leicht gerötet, als sie in Prüm aussteigen. Der bekannte Kram-und Viehmarkt mit dem angeschlossenen Dingmarkt zieht viele Interessenten von weit und breit an. Ein Gewirr von Ständen hat sich auf dem sonst so geräumigen Hahnplatz angesiedelt. Maria hat aber vorerst nur Augen für den imposanten Bau der Basilika mit den beiden wuchtigen Türmen. Die erste große Kirche, die sie zu sehen bekommt. In einem Lesebuch sah sie einmal ein Bild vom Kölner Dom. Aber das ist kein Vergleich zu diesem Erlebnis. Jetzt gehen beide suchend an den Ständen vorüber. Was es hier alles gibt! Und gleich in solchen Mengen! Hunderte von Mausefallen, Speicherer Tonwaren, Pfannen und Töpfe, Wannen und Geschirr. Dort ein Stand mit Kurzwaren, da einer mit Bürstenzeug, Melkschemeln und Spinnrädern. Maria staunt. Da sehen sie auch seitlich eine Anzahl jüngerer Frauen und Männer, aber auch ältere stehen mit ernsten, schmalen Gesichtern dazwischen. Manche frieren in ihren dünnen Kleidern, sie stampfen mit derben Schuhen auf das Pflaster und klopfen sich die Arme warm. Gutgekleidete Dienstherren gehen umher, einer ordert einen jungen, etwas schlaksigen Burschen, ein paar Schritte hin-und herzugehen, um ihn besser taxieren zu können. Der junge Knecht wird abgelehnt. Achselzuckend geht er wieder zu den Wartenden und reiht sich ein. Einige scheinen Glück zu haben und werden handelseinig, sie gehen gemeinsam in Richtung Marktschenke. "Die gehen zum Umtrunk", sagt der Vater, "damit wird nach dem Handschlag der Dienstvertrag besiegelt. Der Dingherr zahlt seinem neuen Knecht oder der Magd den Mietpfennig (3 Mark)."

Maria ist mit ihren 14 Jahren fast so groß wie die meisten hier Stehenden, und doch ist es ihr mulmig und bang, als sie sich dazustellt. "Ich bin ja auch noch da", tröstet der Vater sie, "es ist auch nicht schlimm, wenn du heute nichts findest".

Beide haben den Bauern im Lodenmantel, der sie seit einiger Zeit vom Töpferstand aus beobachtet, nicht bemerkt. Er kommt jetzt auf sie zu und nennt, wie in der Eifel üblich, seinen Familiennamen zuerst und dann den Vornamen. Auch der Vater stellt sich so mit seiner Tochter vor. "Ihr sucht Arbeit für das Mädchen?" "Ja," sagt der Vater, "sie ist erst 14, aber wie Ihr seht, groß und kräftig. Sie hat gutes Geschick zum Schaffen. Uns daheim wird sie fehlen".

Das nie gehörte Lob freut Maria, für sie ist es selbstverständlich, daß sie als Kind den Eltern überall zur Hand geht. Aber daß sie ihnen fehlen wird? Das Wort berührt sie. Die Eifeler sind nicht gewohnt, ihr Herz auf der Zunge zu tragen. Ihres schlägt jedenfalls jetzt bis zum Hals. Gerade dort zieht sie sich den Mantel enger zusammen und blickt nun dem Dienstherrn frei ins Gesicht. Nach Büdesheim wäre das also. Pferde hat dieser Bauer. Das sind für Maria ungewohnte Tiere. Niemand in ihrem Dorf besitzt ein Pferd. Sie aber erklärt sich bereit, eins schirren und führen zu lernen, in Haus, Garten, auf dem Feld und bei der Pflege der Kinder, überall wo Bedarf ist, mitzuhelfen. Der Jahreslohn wird ausgehandelt. Zwei Ferkelchen für den Vater, für Maria Kost und Logis. "Kräftiges Essen", verspricht der Dingherr.

Dazu soll das Mädchen zur Kirmes auch noch ein Kleid und ein Paar Schuhe erhalten. Am Lichtmeßtag (2. Februar) wird das Jahr für sie in Büdesheim beginnen. Mit Handschlag wird die Abmachung zwischen den drei Personen besiegelt. Stolz schaut Maria ihren Vater an. Schnell noch einen Blick zu den Arbeitssuchenden. Sie hat es geschafft. Ihrer Familie wird sie zu zwei Ferkelchen verhelfen und damit zu Fleisch für ein ganzes Jahr. Und im Jahr danach, denkt sie, wird sie noch mehr erarbeiten, wenn sie sich weiter gut anstellt. Froh geht sie mit dem Vater durch die Reihen der Stände. Er bleibt an einem großen Tisch mit duftenden Marktwecken stehen. Einen davon kauft er der Tochter. Aber die hat jetzt keine Lust, etwas zu essen, sie ist zu aufgeregt über das Geschehene. Deshalb läßt sie sich den Wecken einpacken.

"Laß uns noch vor der Abfahrt in die Basilika gehen", bittet sie den Vater. In der großen Kirche zieht es sie vor einen Seitenaltar mit vielen, hell flackernden Kerzen. Vor der Gottesmutter knieen beide nieder und verweilen eine Zeitlang, große Dankbarkeit erfüllt Marias Herz. Dann gehen sie zum Ausgang, bekreuzigen sich mit geweihtem Wasser und treten durch das hohe Portal ins Freie . .

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