Das war mein Leben

Pater Jose Kühl, Santiago

 

Ich habe allen Grund, in meinem Herzen aufleben zu lassen, wie Gott durch fast zufällige Kleinursachen gesprochen hat und mich zum Priestertum berief. Da möchte ich auf die religiöse Atmosphäre in meiner Familie hinweisen. Unsere Eltern verstanden es, daß das benediktinische Grundgesetz »Ora et labora« die Lebensnorm sein sollte. Das gemeinsame Tischgebet war gang und gäbe. Wenn wir Kinder abends zu Bett gingen, sprachen wir im Chor: »Gute Nacht zusammen, gelobt sei Jesus Christus«. Dann folgte das Nachtgebet von Luise Mensel: »Müde bin ich, geh' zur Ruh...«. Und des Morgens: »Oh Gott, Du hast in dieser Nacht so väterlich für mich gewacht...«. Wenn der Vater im Sommer auf dem Feld arbeitete, schickte mich die Mutter zu ihm mit unserem Geeser Mineralwasser (Drees). Eines Tages fragte ich ihn, warum er denn etwas aus dem Becher ausschütte. Seine Antwort: »Junge, der erste Schluck ist für den lieben Gott«. Wir Kinder versäumten trotz Regen und Schnee nie die Sonntagsmesse. Als Schulbuben gerieten wir manchmal in Streit darüber, wer bei der heiligen Messe ministrieren dürfe. Folgender Brauch machte auf mich einen tiefen Eindruck: Wenn ich den Priester zum Krankenbesuch mit dem Allerheiligsten begleitete, zogen die Männer ehrfürchtig den Hut ab und die Frauen knieten sich auf den Boden.

Auf diesem Nährboden sproß in mir der Gedanke, Priester zu werden, mit dem Akzent auf missionarischer Tätigkeit. Als erstes sprach ich mit meiner Mutter über dieses Anliegen. Sie strahlte vor lauter Freude, daß ein Sohn Priester werden wollte, fragte aber: »Was wird Vater dazu sagen?«; ich war nämlich bestimmt, das bäuerliche Anwesen zu übernehmen, hatte jedoch keine Neigung, zu einem System Ja zu sagen, das viel Mühe und Arbeit kostete und doch wenig Ertrag abwarf, wo Bauern sich nicht einigen konnten, eine Flurbereinigung vorzunehmen. Diese Initiative hätte eine rationellere Bewirtschaftung ermöglicht und den Ertrag erhöht. Daß ich recht hatte, beweist die Entwicklung, daß, wenn ich recht informiert bin, heute in Gees nur noch ein einziger landwirtschaftlicher Betrieb existiert. Ich bat meine Mutter, mit dem Vater zu sprechen über mein Sehnen, Priester zu werden. Schweren Herzens sagte der Vater Ja, obwohl er wußte, daß er keine Stütze in seinen alten Tagen haben werde. Beiden, Vater und Mutter, bin ich für immer dankbar, daß sie mich auf dem Weg zum Priestertum stützten. 

Nun aber der zweite Schritt. Wo sollte ich mein Priestertum verwirklichen? Die Vorsehung zeigte mit drei Möglichkeiten. Im Jahre 1924 fand in Gerolstein eine Volksmission statt mit großer Beteiligung der Gläubigen. Der Redemptoristenpater sprach so bewegend, daß die Bevölkerung andächtig zuhörte. Das wäre etwas für mich, dachte ich. Kaplan Freichel, mit dem ich darüber sprach, besorgte mir die nötigen Papiere zum Eintritt in das Redemptoristenkolleg in Bonn. Kurz nach Empfang der Papiere sprach ich mit einem gleichaltrigen Jungen aus Büscheich, der in St. Wendel bei den Steyler Patres studierte. Er versuchte mich zu überzeugen, doch mit ihm in St. Wendel einzutreten. Mein Urteil: Was ein Büscheicher kann, kann auch ein Geeser! Das war jedoch nicht das letzte Wort. Ich lernte die Familie Malburg kennen, deren drei Söhne in Schönstatt studierten. Zwei von ihnen wurden Priester, der dritte arbeitete später im Rundfunk. Der Kontakt mit der Familie Malburg bewog meinen Vater, mit mir nach Schönstatt zu fahren, um an Ort und Stelle das Studienheim und das Arbeitsfeld der Pallottiner kennenzulernen. Pater Vogel, später Bischof in Südafrika, empfing uns und betreute uns so herzlich, daß die letzten Vorbehalte meines Vaters schwanden. Im März 1925 kam ich nach Schönstatt, jedoch nicht allein, sondern mit einem weiteren Geeser, Franz Hent-ges, der ebenso Neigung zum Priestertum hatte und sich mir anschloß. Damit beginnt die eigenartige Führung Gottes, daß wir gemeinsam den Weg gehen durften. Mein Werdegang bis 1940 ist nachzulesen in den »Erinnerungen an Pater Hentges«, Heimatjahrbuch 1990.

Die Oberen übertrugen mir 1940 die Aufgabe der Gründung und Leitung eines Kollegs in Santa Cruz. Zielsetzung der Schule war die christliche Erziehung der männlichen Jugend. Die Betreuung der Mädchenjugend lag in den Händen der Salesianerinnen, die fast gleichzeitig in Santa Cruz ein Kolleg gründeten. Wir fingen mit zwölf Schülern des vierten Grundschuljahrganges an. Heute sind es fast über tausend Schüler in folgenden Jahrgängen: Kindergarten, Grundschule, Mittelschule bis zum Abitur. Es ist auffallend, daß die meisten Lehrer aus demselben Kolleg stammen, nachdem sie auf der Universität Pädagogik studierten. Parallel mit dem zahlenmäßigen und geistigen Wachstum waren wir in der Lage, dem äußeren Ausbau des Institutes Rechnung zu tragen. Im Zeitraum von 1940 bis 1965 durfte ich, mit Unterbrechung, meine besten Energien diesem Werk in Santa Cruz widmen. Als ich 1963 mein silbernes Priesterjubiläum feierte, überreichte die Regierung mir den Chilenischen Verdienstorden. Ich legte jedoch Wert darauf hinzuweisen, daß diese Auszeichnung allen Mitarbeitern gelten solle. Parallel zu meinen Aufgaben als Leiter des Institutes lief eine wertvolle und interessante Aktion. Es handelte sich um Hilfe für die notleidenden Kinder des völlig zerstörten Deutschlands in den Jahren 1945 -1950. Verständlich, daß viele Deutsche und deutsche Institutionen Hilferufe ins Ausland schickten. Auch Kardinal Caro, der erste chilenische Kardinal, erhielt von einem Amtskollegen, Kardinal Frings aus Köln, ein herzbewegendes Bittgesuch zugunsten der deutschen Kinder. Kardinal Caro beauftragte mich als Deutschen mit langem Aufenthalt in Chile, eine Hilfsaktion anzubahnen. Das tat ich gern. Die deutsche Kolonie in Santiago-Valparaiso und die Deutschstämmigen Südchiles hatten schon unmittelbar nach dem Kriegsende ein »Comite de Socorro« gegründet. Diese Aktion nahm Kontakte auf mit dem von mir gegründeten »Comite Caritas pro Ninos Alemania«. Wir wandten uns mit unserem Anliegen an die rein chilenische Bevölkerung, das »Comite de Socorro« dagegen an die Deutschen und Deutschstämmigen. Die Aktion zugunsten der notleidenden deutschen Kinder erbrachte damals unter anderem: 33 000 Paar neue Schuhe, an die 9 000 Sack Hülsenfrüchte, Reis, Trockenmilch, mehrere tausend Kisten Wäsche, Medikamente und vieles andere (heute sind die Rollen vertauscht: Deutschland hilft Chile durch Misereor und Adveniat). Im Trierer Paulinus war einmal zu lesen: »Ein Pater aus Gerolstein, dem viele Deutsche das Leben verdanken, Jose Kühl organisierte die chilenische Nachkriegshilfe«. Nach der Statistik der Caritas Schweden, die die Hilfe nach Deutschland vermittelte, wurden von 1946 bis 1949 insgesamt 560454 Kilo Liebesgaben aus Chile nach Deutschland transportiert. Die Deutschen Bischöfe verliehen mir für »Verdienste um die Deutschlandhilfe der Nachkriegszeit« die Bonifatius-Medaille.

1954 begann ein neues Kapitel: Zwei Jahre Ausbau und Leitung einer landwirtschaftlichen Schule für Bauernjungen aus ganz Chile. Ein Internat mit etwa 100 Schülern, ungefähr 100 Kilometer südlich von Santiago. Dieses Landgut ist ein Musterbetrieb, wo alle Schüler mit den verschiedenen Branchen der Landwirtschaft bekannt werden: Angefangen bei Hühnerzucht über Schafzucht, Milchkühe, Schweinezucht, Weinberg, Gemüsegarten, Obstplantagen, das alles mit Theorie und Praxis verbunden. Besitzer dieses Anwesens ist die St.- Vinzens-von-Paul-Konferenz. Zwei schöne Jahre für diesen Bauernsohn aus der Eifel! Diese kurze Tätigkeit in Donihue wurde jäh abgebrochen durch ein Telegramm aus Rom, in dem unser Pater General mich zum Regionaloberen für Chile ernannte. Das bedeutete unter anderem eine Reise nach Rom zum Generalkapitel der Pallottiner im Jahre 1959. Hier muß ich jedoch mit Kummer und Sorge die Krise erwähnen, die sich in dieser Zeit in unserer Gemeinschaft abspielte. Es waren Spannungen um das Leitbild unseres Gründers Vinzenz Pallotti und um sein Werk des Katholischen Apostolates, andererseits das Schönstattwerk und dessen Gründer, Pater Josef Kentenich. Diese Differenzen konnten nicht überbrückt werden und gingen bis in die höchsten kirchlichen Behörden, so daß der Heilige Stuhl 1965 eine Trennung von Pallottinern und Schönstättern anordnete. Die Oberender Pallottiner verfügten, daß alle Mitglieder, die in Chile waren, in die alte Heimat zurückkehren mußten. So mußte jeder von uns hier in Chile im Gewissen entscheiden: entweder Pallottiner oder Schönstätter. Sodann; Chile oder Deutschland. Ferner mußten die Apostolatswerke der Pallottiner der chilenischen Kirche zurückgegeben werden. Das betraf auch die Schule in Donihue und vor allem Santa Cruz, was ich ja als mein Lebenswerk betrachtete und liebte. Meine persönliche Entscheidung war: Schönstatt und Chile! Ich litt unter all diesen Vorgängen, vor allem aber, ich war arbeitslos, weil auch die neue Gemeinschaft es sich nicht leisten konnte, mit genügend Personal das Kolleg zu übernehmen. Hier griff wieder einmal die göttliche Vorsehung in mein Leben ein, eine schöne und wertvolle Aufgabe fiel mir zu: Mutual Pax Chile.

In den fünfziger Jahren hatte ich in Santa Cruz mit unserem Diözesanbischof ein längeres Gespräch über die Kirche in Chile. Bei der Gelegenheit bezog sich der Bischof auf ein menschliches Problem, die Sorge um die alten, kranken und invaliden Weltpriester. Diese Sorge teilen alle Bischöfe des Landes. Ich war sehr beeindruckt, als er mir sagte: »Sie sind der Mann, der das Problem lösen kann«. Ich antwortete: »Das würde ich gern tun, ist jedoch nicht vereinbar mit meiner Tätigkeit als Rektor eines Institutes«. Dieses Gespräch ließ mich jedoch nicht in Ruhe. Als ich 1965 das Amt meinem Nachfolger übergab, tat ich es mit Schmerz. Mein Oberer tröstete mich: »Pater Kühl, suche dir eine Tätigkeit aus, die dir gefällt«. Ohne weitere Überlegung antwortete ich: »Wenn die Bischöfe es annehmen, bin ich bereit, ein Institut zugunsten der alten, kranken und invaliden Priester aufzubauen«. Das nahm mein Oberer nicht nur an, sondern teilte dieses Anerbieten dem Kardinal Raul Silva mit. Dieser bat mich, ein solches Werk zu gründen. Zuvor mußte jedoch die Bischofskonferenz die Genehmigung hierzu erteilen. Ich arbeitete entsprechende Statuten aus und wurde der Exekutivsekretär des Vorsitzenden des Direktoriums, des Erzbischofs von Concepcion. Drei Jahre waren für mich Lern- und Wanderjahre. Ich kam in der Welt herum, wie ich mir das nie vorgestellt hätte. Überall spürte ich nach, wie die Sozialversicherung der Priester gelöst wird, nach welchem System, mit welchen Mitteln. Am 1. Januar 1968 war alles so weit vorbereitet. Die Bischofskonferenz approbierte das Werk. Immer wieder konnte ich spüren, mit welcher Dankbarkeit die Gründung von Mutual Pax aufgenommen wurde. Kardinal Silva ernannte mich zum Ehrendomherrn der Kathedrale von Santiago. Zum Abschied aus dem Amt der Leitung der Mutual kamen acht Bischöfe und an die hundert Priester, um mirzu danken. Die chilenische Regierung verlieh mir 1963 die Verdienstmedaille Bernardo O'Higgins. Das war aber nicht alles. Die chilenische Bischofskonferenz beauftragte mich, dem Steuerwesen neue Impulse zu geben. Sie rief alle aktiven Christen auf, ein Prozent ihres Bruttoeinkommens fürdie Kirche zu opfern. Dieser Aufgabe widmete ich mich fünfzehn Jahre, ab 1965, mit gutem Erfolg bezüglich Zahler und finanzieller Hilfe. Ich darf noch mein Interesse für den kirchlichen Nachrichtendienst erwähnen: Zehn Jahre war ich Chile-Korrespondent der beiden katholischen Nachrichtenagenturen K.N.A. Bonn und N.C.N.S. Washington. Es ist mir geglückt, neben Erziehungs- und Sozialarbeit auch der Seelsorge etliche Kräfte zu widmen. Während meiner Tätigkeit als Schulleiter in Santa Cruz betreute ich jeden Sonntag zwei Filialen in Nachbardörfern für die dortigen Landarbeiter und Familien. In Santiago hielt ich fünfzehn Jahre hindurch den Kindergottesdienst in der Arbeiterpfarrei im Stadtviertel »Jose Maria Caro«.

Es sei mir gestattet, auf meine Ehrungen einzugehen. Die Deutsche Bischofskonferenz überreichte mir die St.-Bonifatius-Medaille in Silber. Die Stadt Santa Cruz ernannte mich zum Ehrenbürger des Ortes; der dortige Kindergarten wurde auf den Namen »Padre Jose Kühl« getauft. Die deutsche Bundesregierung verlieh mir 1954 das Bundesverdienstkreuz am Bande und 1986 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik. Nun wende ich mich an die lieben Menschen, mit denen ich während meines Lebens Kontakt hatte, seien es Angehörige, Freunde, Mitbrüder, kirchliche Persönlichkeiten und Wohltäter. Für sie alle gilt der Hinweis aus der Deutschen Messe von Schubert:

Du gabst, o Herr, mir Sein und Leben

und deiner Lehre himmlisch Licht.

Was kann dafür ich Staub Dir geben?

Nur danken kann ich, mehr doch nicht!