Der Fremdling

Lotte Schabacker, Daun

 

Immer mal wieder, wenn ich von den verschiedenen Befürchtungen höre oder lese, die Fremdlinge bei meinen Mitbürgern auslösen, fällt mir ein kleines Erlebnis ein. (Das Wort Fremdling soll hier für alle diejenigen stehen, die nicht innerhalb der deutschen Grenzen geboren sind). Es ist schon eine ganze Weile her. Ich saß gegen Abend allein in einem D-Zugabteil - Strekke Essen/Saarbrücken - und las. Der Zug hatte Köln schon länger hinter sich, als die Tür aufgeschoben wurde. Ich dachte, es sei der Kontrolleur, aber es war ein junger Mann, dessen Gesicht mit vielen schwarzen Haaren zugewachsen war. Gekleidet war er in ein fahles, schäbiges Blaugrau. Ertrug Sandalen und viele Tüten, die man damals gerade begann, Türkenkoffer zu nennen. Ein Fremdling? Jedenfalls eine Erscheinung, wie sie zu der Zeit in meinem näheren Umfeld noch selten war und mit Mißtrauen betrachtet wurde. 

Ich ging unter die Schnelldenker. Weshalb kam er gerade hier herein? Warum während der Fahrt und nicht kurz nach einer Haltestelle? Ich hatte vorhin im Vorübergehen einige leere Abteile gesehen. Weshalb suchte er nach einem, in dem ein einzelner Mensch saß? Paßte das in seinen Plan? Eine kleine und fast dünne Frau über so was wird man leicht Herr. Mein Koffer und das sonstige Zubehör wirkten auch nicht gerade billig ...

Ich ertappte mich dabei, daß ich die Tasche an meiner Seite fest an mich drückte. Aber um die würde es ja erst kurz vor seinem Aussteigen gehen. Oder gar um meinen Hals? Du liebe Zeit, was hörte und las man da nicht alles. Raubüberfall im D-Zug. Oder gar Mord. 

»Nabend!« sagte der Fremdling in reinem Hochdeutsch. Also kein Fremdling. Oder? Mich hatte kürzlich in einer Klinik ein schon sehr farbiger Doktor behandelt, der ein besseres Deutsch sprach als meine Nachbarn. Also konnte dieser Bärtige doch ein Fremdling sein. 

Der große junge Mann verstaute seine Tüten im Gepäcknetz und ließ sich dann auf den Fensterplatz plumpsen. Gut, daß ich an der Tür saß, vielleicht gelang es mir schnell genug, sie aufzureißen und um Hilfe zu schreien, falls er Anstalten machen sollte ...

»Wo müssen Sie aussteigen?« fragte er, wobei seine Augen zu Schlitzen wurden, die Nasenflügel nach oben rückten und der Bart sich verzog. Offenbar lächelte er.

Was war nun diplomatischer, die Wahrheit oder eine Lüge? Man müßte beides durchdenken wie komplizierte Schachzüge und dazu blieb mir keine Zeit. Ich mußte ja schnell und unbefangen antworten. Nur keine Angst zeigen. Ich blieb bei der Wahrheit.

»Na prima, dahin muß ich auch; ich habe ... « 

»Wieso na prima und weshalb die Frage?» unterbrach ich ihn und lächelte ebenfalls, so reizend ich konnte. Er habe da ein Problem, behauptete er. Er pflege nämlich in aller Regel in fahrenden Zügen fest einzuschlafen. Daran könne ihn auch kein Bahnhofsaufenthalt hindern. (Ja, er sprach mit leichtem Akzent, das hörte ich jetzt.) Deshalb sei er immer froh, wenn er jemanden fände, der ihn wecken könne. Ob ich wohl... oder ob ich etwa gleichfalls im Zug einschliefe? »Nein, nie!« sagte ich schnell. »Dann vergessen Sie mich bitte nicht, wenn Sie aussteigen.« 

Ich versprach es. Im ersten Moment war ich erleichtert. Aber nicht lange. War die Sache mit der Schlaferei etwa eine Finte? Um mich in Sicherheit zu wiegen? Aber ich würde wachsam bleiben.

Der Fremdling hatte inzwischen ein Heftchen und einen Kuli aus der Tasche gezogen und begann zu schreiben. Mit Unterbrechungen. Worüber dachte er nach, wenn er nicht schrieb?

Wer weiß! Jetzt holte er auch noch ein Büchlein hervor, blätterte darin herum. Als er es mal etwas schräg hielt, sah ich Wörter- und Zahlenkolonnen. Ein Fahrplan? Wollte er herausfinden, welche Station ihm die beste Möglichkeit bot, in einem anderen Zug schnell zu entwischen?

Ich gab vor zu lesen. Stille - außer dem monotonen Geräusch des fahrenden Zuges. Plötzlich vom Fensterplatz her ein Klicken. Ich schielte hin. Der Kuli lag auf dem Boden. Heft und Büchlein rutschten hinterher. Der Fremdling schlief.

Schlief er wirklich? Es sah ganz so aus. So unelegant würde sich selbst ein Greis beim Heucheln nicht präsentieren. Allein der herabhängende Unterkiefer! Jetzt begann er auch noch zu schnarchen, und zwar gekonnt. Fast wie mein Mann. Aber ich würde ihn trotzdem beobachten, vielleicht verriet er sich durch irgend etwas, schielte mit dem Auge, das fast von seinem Kopfhaar bedeckt war, zu mir hin. Aber er schlief sehr überzeugend. Ich mußte gähnen. Während ich ihn überwachte, fielen mir die Krimis ein, die ich in letzter Zeit genossen hatte. Die Kommissare, die ich nett fand. Die cleveren Detektive. Ein Mann namens Emil, wer war das noch? Der Mörder ist immer der Gärtner. Rotkäppchen und der Wolf. Ein Froschkönig mit schwarzem Gefieder...

Plötzlich spürte ich irgend etwas auf meiner Schulter. Was war das? Und wo war ich? Dann merkte ich: Eine Hand rüttelte mich. Eine Stimme, der man ein Lächeln anhörte: »Hallo, Sie müssen aufwachen, wir sind gleich da. Gut, daß Sie so herzhaft geschnarcht haben, dadurch bin ich wach geworden!« Meinen Koffer hatte er schon aus dem Gepäcknetz geholt....