»Denn ich war durstig, und du hast mich nicht getränkt

Vor vierzig Jahren starb »Schreina Mattes«

Franz Josef Ferber

 

Etwas wehmütig, gemischt mit einer Art Schuldgefühl, muß ich oft an den Mann zurückdenken, der vor vierzig Jahren meine Aufmerksamkeit, besser gesagt, mein kindliches Mitleid erregte, dem aber mit Mitleid nicht gedient war und der gewiß auch nicht bemitleidet werden wollte: den »Schreina Mattes«. Er wurde so genannt nach seinem Beruf und nach dem Hausnamen. Richtig hieß er Matthias Wallenborn. Was damals mein Gemüt bewegte, war das soziale Schicksal dieses Mannes; es hob sich merklich von dem seiner Mitmenschen ab.

 Schreina Mattes war am 28. Oktober 1882 in Hörschhausen geboren. In jungen Jahren hatte er das Schreinerhandwerk erlernt. Aus ihm war ein tüchtiger Fachmann geworden, ein Handwerker im wahrsten Wortsinne. Maschinenarbeit war ihm fremd. Alles, was er produzierte, machte er »von Hand«. Handwerkszeuge waren seine ständigen Begleiter, wenn er an Ort und Stelle seine Arbeiten verrichtete. Sobald man ihn brauchte, wurde er gerufen. Dann ging er von Haus zu Haus, in der näheren und ferneren Umgebung. Als Bauschreiner betätigte er sich genauso wie als Möbelschreiner. Unzählige Haustüren hat er angefertigt, nur wenige davon zieren heute das Eifeler Haus; die meisten verschwanden, sie waren unmodern geworden. Viele Küchenschränke, Schlafzimmer, Bänke und Backmulden, von ihm gearbeitet, standen noch vor einigen Jahren in den Bauernhäusern. Auch sie waren zu altmodisch oder wurden nicht mehr gebraucht; dabei würden sie noch Generationen hindurch ihre Dienste tun, so schön und stabil waren sie verarbeitet. Kurzum, die Bevölkerung dieser Gegend hat dem Mattes einen guten Teil ihrer biederen, liebevoll gearbeiteten Bauernmöbel, diesem wertvollen heimischen Kulturgut, zu verdanken. Wer könnte wohl bei alledem auf den Gedanken kommen, diesen redlichen Handwerksmann als ungleichwertiges Glied der Gesellschaft abzuqualifizieren? Keiner dürfte und würde es wagen!

Sonntag am Bahnhof Utzerath um 1942. Schreina Mattes und Schlümpens Pitta

Sein Schicksal war es, daß Mattes sich kein rechtes Zuhause geschaffen hatte. Anders als seine Geschwister war er unverheiratet geblieben .Seine Wohnstätte war ein armseliges Dachzimmer im elterlichen Haus. Und das war eben zu wenig. Wochentags ging Mattes seiner Arbeit nach und verdiente sich ehrlich seinen Lebensunterhalt. Er erhielt ihn von den Bauern, zum Teil in Geld, teilweise in Naturalien (Tageskost). Jedoch, was sollte er des Sonntags in seiner öden Dachkammer anfangen? Nichts! Also trieb es ihn zur Geselligkeit, die er in den Gastwirtschaften suchte; das Gasthaus war Ersatz-Heim. Und damit begann sein Schicksal. Im Laufe der Jahre wurde der Alkohol sein ständiger Begleiter. Dieser setzte ihm gesundheitlich arg zu und ließ ihn auch an seiner Würde Schaden nehmen. Mattes war der erste Mensch, den ich betrunken sah. Wie beschämend muß es doch für ihn gewesen sein, im besten Sonntagsanzug, vom Alkohol niedergedrückt, von einer neugierigen Kinderschar umringt, in Schäwwes Hof im Reisighaufen zu liegen. Da war es schon wesentlich angenehmer, wenn er lautsingend »Es war im Böhmerwald, wo meine Wiege stand« durchs Dorf schwankte. Überhaupt, dieses böhmische Volkslied schien es ihm angetan zu haben; es war wohl sein Lieblingslied, kein anderes habe ich ihn jemals singen hören. Nun, die Zeit blieb auch für den Schreina Mattes nicht stehen. Er wurde älter und älter, und mit zunehmenden Jahren gingen Arbeitsunfähigkeit und Gebrechlichkeit einher. Für seine alten Tage hatte Mattes nicht vorgesorgt. Das war damals bei selbständigen Handwerksleuten keineswegs außergewöhnlich, es war fast die Regel. Der wirtschaftliche Abstieg war vorgezeichnet. Letzten Endes blieb dem fleißigen Handwerksmann der Gang zum Fürsorgeamt nicht erspart.

In seinen letzten Lebensjahren bekam ich engeren Kontakt zu ihm. Hier und da kehrte er, auf dem Weg zum Bahnhof, in unser Haus ein. Gelegentlich bat er mich um eine kleine Gefälligkeit. Seine Krankheit machte ihm von Tag zu Tag mehr zu schaffen. Schließlich brachte man ihn ins Dauner Krankenhaus. Dort lag er ziemlich verlassen. Mariechen, seine Nichte, kümmerte sich am meisten um ihn. Ich besuchte ihn auch, nach Beendigung des Schulunterrichts. Seine Verlassenheit stimmte mich traurig. Wo waren sie geblieben, seine Jugendfreunde, die Nachbarn, Bekannten und, nicht zu vergessen, die Wirte, denen er in seinen guten Tagen ein willkommener Gast war? Sie alle schienen ihn am Ende seines Lebens vergessen zu haben. Warum? Das fragte ich mich ständig. Denn der Mattes war doch kein schlechter Mensch.

Eines Tages verlegte man den Todkranken in das sogenannte Isolierhaus, einen Steinwurf weit von dem kleinen Krankenhaus entfernt. Dort war für ihn ein Sterbezimmer eingerichtet. Als ich ihn wieder mal besuchte, merkte ich, daß die Zeit des Sterbens nahegerückt war. Sein Geist war schon etwas verwirrt. Trotzdem erkannte er mich als seinen »jungen Freund«, wie er sagte. Er schien auf mich gewartet zu haben und bat mich, ihm zu trinken zu geben. Doch das wollte man mir nicht gestatten. Die Ordensschwester, eine gütige Frau, die sich äußerst liebevoll des kranken Mannes annahm, meinte, er würde alles Getrunkene sowieso »unter sich gehen lassen«. Die Begründung leuchtete mir nicht ein, ich empfand sie hartherzig. Mir tat der Sterbende leid. Ich wäre bereit gewesen, für ihn ein Opfer zu bringen, nämlich vom Sonntagsgeld (zwanzig Pfennig) im Hotel Gross nebenan eine Flasche Sprudel zu kaufen.

236Tags darauf wollte ich ihn wieder besuchen; ich kam zu spät. Mattes war kurz zuvor gestorben. Man schrieb den 11. Februar 1951. Ich war untröstlich über mein Verhalten am Vortage, machte mir heimlich Vorwürfe. Weshalb, so mußte ich mich fragen, habe ich mich von der Ordensfrau so schnell ins Bockshorn jagen las-

sen. Vielleicht hatte sie es auch gar nicht so ernst gemeint. Mir war's, als beklagte sich der Tote: »Denn ich war durstig, und du hast mich nicht getränkt ...!«

(Aus: F. J. Ferber »Wie's daheim war - Erzählungen aus dem Üßbachtal«)