Der Schulweg . . . unwiederbringliche Erlebnisse

Theo Pauly, Gerolstein

 

In unserer hochindustrialisierten und -technisierten Welt lernt schon das Vorschulkind den Umgang mit Computerspielen. Es wird, ohne es zu wollen, ein »schlaues« Kind. Der Entwicklung seiner technischen Intelligenz sind kaum Grenzen gesetzt. Ist es des Spiels mit solchem »Spielzeug« überdrüssig, nimmt es die Möglichkeiten anderer technischer Medien im Hause wahr. Es ist nicht mehr gezwungen, sich selbst eine Beschäftigung zu suchen; das zur Verfügung stehende Angebot zur Zerstreuung ist riesengroß.

Zur Schule fährt das Kind pünktlich mit dem Schulbus; wo ein solcher nicht verkehrt, weil etwa in der Stadt der Fußweg dem Kind als zumutbar erklärt ist, läßt es sich von der Mutter im Zweitwagen chauffieren und wieder abholen. Was anderen Kindern recht ist, soll dem eigenen billig sein! Außerdem ist das Kind auf diese Weise nicht den hohen Gefahren des Straßenverkehrs ausgesetzt; im Auto ist es besser aufgehoben, denn als Fußgänger! Trotzdem, wohl dem Kind, das den Schulbus nicht benutzen darf, und dessen Eltern keine Zeit oder Möglichkeit haben, es im eigenen Auto in die Schule zu bringen! Wieviele Eindrücke und kleine Erlebnisse darf es schon sein eigen nennen, bevor es das Schulhaus betritt: Eine Schnecke, die über den Bürgersteig ihre klebrige Bahn zieht; Müllers Hund, den es streicheln darf, und der hechelnd und schwänzelnd ein paar Meter des Weges mitläuft; das Rotkehlchen, das, den Schnabel voller Raupen und Würmer, seinem Nest entgegenfliegt; ein alter Mann, der schon in aller Frühe seinen gewohnten Spazierweg abschreitet, dem Kind viel Erfolg in der Schule wünscht und all die vielen kleinen Dinge, die ihm begegnen; dem im Schulbus eingezwängten Kind wiederfährt nichts von allem. In meiner Kindheit durchführen das Dorf am Tag zwei Autos: Das Postauto und das Milchauto, allenfalls noch der Doktor mit seinem Personenwagen auf dem Weg zu einem Schwerkranken.

Ein Omnibus kutschierte ab und zu im Sommer auch schon mal durchs Dorf, besetzt mit Touristen aus der Stadt, und es machte uns große Freude, diesen Fremden zuzuwinken. Wollte ich mehr Autos sehen, dann stieg ich an Sonntagen, an denen auf dem Nürburgring ein Autorennen ausgetragen wurde, in Begleitung meiner Großmutter den Hardtberg hinauf und sah an der Straße von Boxberg nach Kelberg die noblen Karossen vorbeifahren. Damals waren mir Namen wie Caracciola, Rosemeier und Brauchitsch ein Begriff, obwohl ich nie ein Autorennen besucht hatte. Aber hören konnte man sie, die schnellen Flitzer, wenn sie auf dem Ring ihre Runden drehten, und der Wind kam aus Nord.

Der Weg nach Neichen, wo unsere Schule stand, betrug etwa anderthalb Kilometer. Aber die hatten es in sich! Immer ereignete sich etwas, und wenn nicht, dann machten wir selbst »was los«. Langweilig wurde es nie, man war ja auch nicht allein. Entweder wurde man »angerufen« oder man ging »anrufen«. Dieses »Anrufen« bedeutete nichts anderes, als zum nächsten Mitschüler ins Haus zu gehen und zu warten, bis dieser fertig gefrühstückt hatte, seinen »Schüllersack« gepackt und bereit war, mitzugehen. So gab es, bis man das Dorf verlassen hatte, oft vier, fünf und mehr Anlaufstationen. Die freie Straße zwischen Beinhausen und Neichen verlockte zu manchem Spiel und auch schon einmal zum Schabernack. Nie wurde der Schulweg zügig zurückgelegt. Immer wieder gab es Aufenthalte verschiedenster Art, sei es, daß man die Straße nicht benutzen wollte und der Weg nur durch den Straßengraben führen durfte, sei es, daß man die Straße ganz verließ und durch das Bachbett der Lieser watete oder ein Umweg über den » Eecheschberg«, wo es noch Maikäfer zu schütteln gab, oder ein Klickerspiel über die gesamte Strecke bis Neichen; immer war es etwas, das uns aufhielt und zu spät in die Schule kommen ließ.

Der Straßenrand war zur Lieser hin mit »Straßenbäumen« abgegrenzt; da wuchsen alte Ebereschen, in deren Stämme der Specht Nistlöcher gehämmert hatte, die nun von Staren und Dohlen besetzt waren; es gab auch eine Menge Apfelbäume. Ihre Früchte waren beileibe nicht als Tafelobst zu bezeichnen, aber man konnte sie ernten und verzehren; daher wurden sie alljährlich versteigert und dann hatten die Bauern ihre liebe Not, die Ernte auch einzubringen. Uns Kindern schmeckten die Äpfel schon, bevor sie reif waren. Klein und ungenießbar eigneten sie sich vorzüglich dazu, von einer Weidenrute aufgespießt, weit und hoch hinweggeschleudert zu werden; in dieser Disziplin wurden regelrechte Meisterschaften ausgetragen. Hatten dann doch einige Früchte am Baum bis zur Reife durchgehalten, war der Bauer, der die Bäume ersteigert hatte, gut beraten, sich zu Zeiten des Schulganges in ihrer Nähe aufzuhalten, mit einem knorrigen Stock bewaffnet, um den kleinen Apfeldieben zumindest Furcht und Respekt einzuflößen.

Einmal hat uns ein Bauer aus Neichen erwischt. Er war es, der besagte Apfelbäume steigerte und recht viel Ärger mit uns hatte. Der Zwischenfall ereignete sich im Frühsommer. Auf den Wiesen stand das Gras schon ziemlich hoch und wartete auf die Mahd. Da die Sonne an diesem Tage frühmorgens schon recht warm schien, hatten wir uns entschlossen, unseren Schulweg durch die Lieser zu nehmen. Die Schuhe hingen zusammengeschnürt um denHals, die Strümpfe steckten wohlverwahrt im Ranzen. So wateten wir durch das mäßig hohe Wasser des Baches, wohl darauf achtend, nicht auszurutschen und ins Wasserzufallen. Pfarrer Kneipp hätte seine Freude an uns gehabt! Dabei hatten wir nicht bemerkt, daß uns der Bauer aus Neichen beobachtete und an einer Stelle erwartete, von der aus es kaum ein Entweichen gab.

Der Lieser entstiegen und wieder mit Schuhen und Strümpfen bekleidet, trotteten wir lustig den Neichener»Mössewääch« (Meßweg = Weg zur Kirche) der Schule entgegen. Dort, wo der Meßweg auf die Dorfstraße einmündete, hatte ersieh zu einem beachtlichen Hohlweg entwik-kelt, rechts und links umsäumt von Straßengräben und auf den dahinter steil aufsteigenden Wegerändern mit dichten Hecken und Gestrüpp bewachsen. Hier empfing uns der Bauer mit einem langen Knotenstock und vor Zorn gerötetem Gesicht. Endlich hatte er die Apfeldiebe erwischt, nun sollten sie einen Denkzettel erhalten! Uns rutschte das Herz nun doch ein wenig tiefer in Richtung Hose. Daß wir, in der Schule angekommen, eine Tracht Prügel fürs Zuspätkommen beziehen würden, war etwas Alltägliches und schon beim Einstieg in die Lieser einkalkuliert, aber daß wir nun gleich zweimal den Hosenboden voll bekommen sollten, war uns doch erheblich zuwider. Nur, wie sollten wir es anstellen, dieser Gefahr zu entgehen? Versuche einzelner, zur Seite hin auszuweichen, scheiterten am undurchdringlichen Gestrüpp und den Dornen der Schlehen- und Hagebuttenhecken; erheblichen Widerstand boten auch die fast mannshohen Brennesselstauden. Zurückzulaufen und den Hohlweg zu umgehen, schien auch nicht angebracht, denn dann hätten wir Schwierigkeiten mit den anderen Bauern bekommen, weil wir ihr Gras auf der Wiese so kurz vor der Heumahd zertrampelt hätten, und irgendwie war es uns auch in Fleisch und Blut übergegangen, daß man eine Wiese zu dieser Zeit nicht betrat; es wäre uns wie ein Sakrileg erschienen. Doch zur Schule mußten wir; wir waren uns der Pflichten schon bewußt. Was tun? Der Versuch, den Mann gemeinsam zu überlaufen, hatte zweien von uns die Freiheit gebracht, doch wir anderen saßen immer noch in der Falle.

Der Bauer war schon recht schlau, daß er uns gerade hier abgefangen hatte und auch seine Argumente waren nicht schlecht. Wegen der Apfelklauereien konnte er uns ja jetzt, da die Apfelblüte gerade erst vorbei war, nicht angehen. So behauptete er denn, wir seien nicht etwa durch den Bach, sondern durch die Wiesen gelaufen, er habe es genau gesehen, und dafür wolle er uns belangen. Nun, wir ahnten, worum es ging, aber was half uns das? Der Bauer hütete sich, auf uns zuzukommen, denn dann hätte er allenfalls einen von uns erwischt, nein, er blieb am Ausgang des Hohlweges stehen wie ein Fels. Sein langer Knüppel reichte aus, die ganze Wegesbreite abzuschirmen. Ein neuerlicher Versuch, gemeinsam durchzubrechen, scheiterte kläglich. So standen wir uns denn gegenüber, und je mehr Zeit verging, um so unerquicklicher wurde der Gedanke an das, was uns in der Schule erwartete. Es war zwar die Regel, daß wir zu spät kamen, aber so spät war es noch nie geworden. Und die Mädchen, mit denen zusammen den Schulweg zu gehen unter unserer Würde lag, waren stets pünktlich. Das Herz schlug immer schneller, und der Blutdruck stieg; der Bauerbliebstandhaft. Schließlich wurde sich der Älteste unter uns, der auch Anführer war, seiner Verantwortung bewußt. Er wollte sich ausliefern, dem »Feind« quasi in die Arme laufen, damit wir übrigen rechts und links vorbei entwischen konnten. Durch dieses Angebot stieg der Hordenführer gewaltig in unserer Achtung und wir waren ihm noch mehr ergeben. Wie geplant geschah es. Wir konnten entweichen und der Bauer hatte sein Opfer. Nun aber erwies sich, daß dieser Bauer aus Neichen uns nicht einfach nur verprügeln wollte; er wollte uns einen Denkzettel verpassen und ergriff sein Opfer, zog zur Schule. Dort erzählte der Bauer unserem Lehrer von allen Schandtaten und legte ihm ans Herz, geeignete erzieherische Maßnahmen zu ergreifen. Der Lehrer versprach, die Sache zu regeln; wir machten uns auf das Schlimmste gefaßt.

Nachdem der Bauer gegangen war, warteten wir geduldig auf die anstehende Exekution und siehe, sie erfolgte auf dem Fuße. Doch wie erstaunt waren wir, daß die Prügel nicht um einen Deut schlimmer ausfiel, als beim normalen Zuspätkommen. Allerdings gabs noch eine tüchtige Strafpredigt, deren Inhalt sich auf das siebte Gebot bezog. Die tat aber nicht weh, und wir waren unserem Lehrer dankbar. Rache wollten wir trotzdem nehmen. Es gab damalsnoch keine Teerstraßen in der Struth, die Fahrbahn war mit Schotter abgedeckt. Um immer wieder entstandene Schlaglöcher aufzufüllen und auszubessern, lagerten am Straßenrand in regelmäßigen Abständen Haufen mit grobem Kies, damit der »Wächmaan« (Straßenwärter) mit der Handkarre seinen Aufgaben nachgehen konnte. Ein solcher Kieshaufen lag auch in der Nähe dieses Bauern, der uns erwischt hatte. Sein Haus war nicht mit Stroh oder mit Tonziegeln, sondern, damals modern, mit Zinkblech gedeckt. So griffen wir denn beide Hände voll Kieselsteine und warfen sie im Vorbeilaufen auf das Hausdach dieses Bauern. Das gab einen höllischen Lärm. Aber darüber regte er sich scheinbar nicht auf. So erlosch bald unser Interesse am Racheakt und der Bauer hatte seine Ruhe, bis die Äpfel wieder reiften.

Viele Streiche wären noch anzuführen, nie war der Schulweg langweilig. Wenn auch alle Aktivitäten nicht immer astrein waren und heute manches von der Polizei geahndet würde, ich möchte sie nicht missen. Unsere Enkelkinder bedaure ich, weil sie ähnliche Erlebnisse nicht mehr haben.

Fazit der Geschichte: Schulbusse sind auch nicht der Weisheit letzter Schluß ...