25 Jahre Schule für Geistigbehinderte im Kreis Daun

Hubertus-Rader-Schule Gerolstein

Theo Pauly, Gerolstein

 

Nach einer seit vielen Jahren auch heute noch gültigen Statistik sind 0,6 Prozent der Menschheit in Europa geistig behindert, dabei variieren die Behinderungsgrade in einer gewaltigen Spannbreite. Medizinischer Fortschritt und fortschreitende ärztliche Kunst haben an diesem Phänomen bis heute kaum etwas ändern können. So gilt es denn, mit diesen Menschen zu leben. Lange, viel zu lange, hat man sie als bildungsunfähig angesehen, ja, eine unselige Zeit lang gar als lebensunwertes Leben. Noch bis weit in die sechziger Jahre unseres Jahrhunderts hinein wurden geistig behinderte Kinder amtlich als schulunfähig von jedem Schulbesuch ausgeschlossen.

Nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges und der Herrschaft des Nationalsozialismus, der mit seinem Euthanasieprogramm die Frage geistiger Behinderung zu lösen versucht hatte, schlössen sich betroffene Eltern zu einer Vereinigung zusammen, die sich »Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind« nannte und Tagesförderstätten einrichtete, in denen die behinderten Kinder betreut wurden. Dies geschah zunächst nur in größeren Städten, das flache Land blieb von dieser Entwicklung noch ausgespart. Aber auch hier gab es Betroffene, und die Sorge der Eltern und Angehörigen war groß. Die bange Frage der Eltern, was mit ihrem geistig behinderten Kind geschehen sollte, wurde immer wieder an die Stellen herangetragen, von denen man am ehesten eine Antwort erwartete. Die Leiterin der Sozialabteilung bei der Kreisverwaltung Daun, Frau Kreisoberamtsrätin Helene Leonards, mittlerweile im verdienten Ruhestand, machte diese Frage und das damit verbundene Problem zu ihrem persönlichen Anliegen. Sie verstand es, in der ihr eigenen zielstrebigen Art, die politisch verantwortlichen Gremien des Kreises Daun für die Belange der geistigbehinderten Kinder und ihrer Eltern zu "sensibilisieren und fand beim damaligen Landrat Martin Urbanus ein offenes Ohr, zumal sie in ihrem Begehren und in ihren diesbezüglichen Plänen vom damaligen Dauner Schulrat Vonier tatkräftig unterstützt wurde. So wurde durch Organisationsverfügung der Bezirksregierung Trier mit Wirkung vom 1. November 1966 in Gerolstein eine »Sonderschule für geistig behinderte, aber lebenspraktisch bildbare volksschulpflichtige Kinder« in Trägerschaft des Kreises errichtet; Einzugsbereich war der gesamte Landkreis Daun.

 Zunächst fanden sieben geistigbehinderte Schülerinnen und Schüler Aufnahme in dieser im Lande Rheinland-Pfalz ersten Sonderschule in kommunaler Trägerschaft, die in einem neuerrichteten Kindergartengebäude in Gerolstein untergebracht wurde, das vom damaligen Stadtbürgermeister Wollwert und seinen Räten dem Kreis spontan für diesen besonderen Zweck zur Verfügung gestellt worden war. Die kommissarische Schulleitung übernahm die Leiterin der Sozialabteilung bei der Kreisverwaltung Daun; als Mitarbeiterinnen wurden eingestellt eine Kindergärtnerin, eine Handwebmeisterin, eine Hebamme, eine kaufmännische Angestellte, eine Hausmeisterin. Diese Leute hatten mit großem sozialem Engagement und ohne entsprechende Vor- und Ausbildung mit unwahrscheinlichem Mut zur damaligen Zeit pädagogisches Neuland betreten. Die sonderpädagogische Forschung hinsichtlich geistiger Behinderung steckte noch in den Anfängen; es gab keine Unterrichtspläne, nicht einmal Empfehlungen für den Unterricht mit Geistig-behinderten. Und dennoch leisteten diese Menschen in dieser neuartigen Sonderschule hervorragende und wegbahnende sonderpädagogische Arbeit. Als nach der Verabschiedung des »Grund-, Haupt-und Sonderschulgesetzes« im Jahre 1968 im gesamten Land Rheinland-Pfalz Sonderschulen für Geistigbehinderte eingerichtet wurden, konnten viele dieser Schulen, vor allem die im Regierungsbezirk Trier, auf den Erfahrungen der Sonderschule des Kreises Daun aufbauen, wurden doch die meisten der zukünftigen Mitarbeiter dieser Sonderschulen in Gerolstein in ihr Aufgabengebiet eingeführt. Mit Recht kann festgestellt werden, daß die Sonderschule für lebenspraktisch bildbare Kinder des Kreises Daun in Gerolstein wesentliche und wertvollste Pionierarbeit geleistet hat.

1971 wurde die Leitung der Schule einem Sonderschullehrer übertragen, gleichzeitig erfolgte die Umbenennung in »Sonderschule für Geistigbehinderte«. Seit 1974 trägt sie die Bezeichnung »Hubertus-Rader-Schule, Schule für Geistigbehinderte (Sonderschule) Gerolstein«, benannt nach Pastor Hubert Rader, der von 1919 bis zu seinem Tode 1935 als Pfarrer und Homöopath segensreich in Gerolstein gewirkt hat. Die Schülerzahl wuchs ständig. Im genannten Kindergartengebäude waren mittlerweile vier Klassen untergebracht. 1971 stellte die »Lebenshilfe Daun e.V.«, die 1967 ebenfalls auf Initiative von Frau Leonards gegründet worden war, einen Pavillon zur Verfügung, in dem eine fünfte Klasse untergebracht werden konnte. 1972 mietete der Landkreis Daun als Schulträger die aufgelassene einklassige Volksschule in Gees mit der dazugehörigen Lehrerdienstwohnung an; hier wurden drei weitere Klassen untergebracht. 1976 zwang wiederum Raumnot zur Anmietung weiterer Räumlichkeiten. Die Verbandsgemeinde Gerolstein stellte als Träger der Hauptschule dank der Kooperationsbereitschaft der Schulleitung einen Kursraum zur Verfügung, 1977 einen weiteren. Jetzt wurden in zehn Klassen fast siebzig Schülerinnen und Schüler unterrichtet.

1979 konnten Schüler und Lehrer einen Neubau mit zehn Klassenräumen beziehen, fünf Kursräumen, Lehrküche, Gymnastikhalle, Mehrzweck- und Speiseraum, Raum für Krankengymnastik, den entsprechenden Lehrmittel- und Nebenräumen, Verwaltungsräumen, drei Werkräumen und einem Bewegungsbad. Nun konnte, zumindest von den äußeren Voraussetzungen her, optimaler Unterricht erfolgen. Die Werkräume werden bis heute von der Volkshochschule Gerolstein mitbenutzt, die Gymnastikhalle von sporttreibenden Vereinen, das Bewegungsbad von der benachbarten Grundschule, sowie der »Werkstatt für Behinderte« und einmal wöchentlich findet Babyschwimmen statt. Seit einigen Jahren ist die Schülerzahl rückläufig, und von daher haben einige Klassen der Schule für Sprach- und Lernbehinderte hier Unterkunft gefunden.

Die Schule für Geistigbehinderte ist eine Ganztagsschule, das heißt, die Schüler verbringen an fünf Wochentagen je Tag sieben Zeitstunden in der Schule. So ist diese Schulart Bildungseinrichtung und Betreuungsstätte zugleich. Gemäß ihres Bildungsauftrages, berücksichtigt sie bei ihrer Arbeit sowohl die individuellen Bedürfnisse der Behinderten, als auch die Ansprüche der Gesellschaft. Sie erzieht zur Lebenstüchtigkeit und leistet einen entscheidenden Beitrag zur Lebenserfülltheit ihrer Schüler. Ziel der Schule ist es, ihre behinderten Schüler zu befähigen, nach der Schulentlassung so weit wie möglich selbständig leben und handeln zu können, ohne auf Fremdhilfe angewiesen zu sein. Alle Schüler finden nach ihrer Entlassung aus der Schule Aufnahme in der Werkstatt für Behinderte, wo sie, wenn auch in beschützter Form, in den Arbeitsprozeß eingegliedert werden. Als Mitarbeiter der Werkstatt für Behinderte erhalten sie leistungsgerechten Arbeitslohn und sind ren-ten-, kranken- und unfallversichert. Für die Arbeitslosenversicherung besteht Beitragsfreiheit, da ihnen der Arbeitsplatz in der Werkstatt gesichert ist.

Der Hubertus-Rader-Schule steht seit 1978 ein Förderverein zur Seite, der eine Vielzahl von Aufgaben zum Wohle der geistigbehinderten Schüler und ihrer Familien wahrnimmt. Er finanziert seine Hilfen aus Mitgliederbeiträgen und Spenden. Alle schulpflichtigen geistigbehinderten Kinder, und sei die Behinderung noch so schwerwiegend, finden Aufnahme in der Hubertus-Rader-Schule, angemessene Pflege, Betreuung und Unterrichtung. Daß die Schule für ihre vielfältigen und vielseitigen Aufgaben über eine entsprechende und fast optimal zu nennende Ausstattung verfügt, verdankt sie neben der ausreichenden Finanzmittelversorgung durch den Träger nicht zuletzt der Spendenfreudigkeit der Bevölkerung des Dauner Landes. So konnten zum Beispiel im vergangenen Jahr zwei Elektro-Rollstühle angeschafft werden, die einmal die Arbeit mit den Schwerstbehinderten wesentlich erleichtern, zum anderen auch dem Behinderten selbst Gelegenheit bieten, den Umgang mit diesem Gerät zu erlernen. Eine kleine Statistik sei angefügt, die ein wenig Aufschluß gibt über fünfundzwanzig Jahre Schule für Geistigbehinderte in unserem Heimatkreis: Insgesamt 148 behinderte Mitmenschen haben die Schule bis heute durchlaufen, davon kommen zur Zeit noch 37 ihrer Schulpflicht nach. 70 Abgänger der Schule haben Aufnahme in den Westeifel-Werkstätten gefunden und sind dort in den Arbeitsprozeß eingegliedert. Drei Schülerinnen und einem Schüler gelang der Übergang in die Schule für Lernbehinderte, vier Jungen und ein Mädchen erhielten, beziehungsweise erhalten nach der Schulentlassung eine besondere Berufsausbildung »in einem überbetrieblichen Ausbildungszentrum. Drei Schüler und eine Schülerin fanden Arbeit auf dem freien Arbeitsmarkt, ein junger Mann und drei junge Frauen haben Familien gegründet. Während der Schulzeit verzogen neun Schülerinnen und Schüler mit ihren Familien, ebenfalls neun wurden in Heimen untergebracht, vier sind verstorben. Eine einzige junge Frau hat nach der Schulentlassung eine Arbeitsstelle in der Werkstatt für Behinderte nicht angetreten, vier weitere haben die Schule, beziehungsweise die Werkstatt freiwillig verlassen; die Schule deshalb, weil die Behinderung den weiteren Schulbesuch aus ärztlicher Sicht nicht mehr gestattete.

Ich denke, die Einrichtung von Schulen für Geistigbehinderte war ein Segen für die Betroffenen, wie auch die der vor- und nachgeschalteten Institutionen: Frühförderung, Sonderkindergarten, Werkstatt für Behinderte, Wohnheim. Die Gesellschaft hat viel getan für die Mitmenschen, die an ihrem Rande leben müssen, und tut es weiterhin; der Geistigbehinderte als solcher ist weitgehend in die Gesellschaft integriert. Nun ist allgemein der Ruf laut, ihn auch schulisch integriert zu fördern. Das Anliegen ist berechtigt, doch müssen die Chancen und Möglichkeiten des geistigbehinderten Kindes wohl abgewogen werden. Es bleibt sicher noch eine Wegstrecke zurückzulegen, bis ein jeder den Behinderten, gleich welcher Art, als das ansieht, was er ist: Teil unseres Menschseins.