Kitsch

Lotte Schabacker, Daun

 

Mein ambivalentes Verhältnis zum Kitsch und zu den Leuten, die immer so genau wissen, was das ist, begann schon in meiner Kindheit. Wir sollten im Handarbeitsunterricht das Häkeln üben. Endprodukt: Eierwärmer.

 Meine Mutter suchte aus ihrem Wollvorrat ein bläuliches Knäuel heraus, eigentlich mehr grau als blau. Ich protestierte. Ich wollte rote Wolle, so richtig feuerrot. Es gab Krieg. Ich heulte. Aber Mutter behielt das letzte Wort: » Feuerrot, das ist doch kitschig!«

Nach getanen Anstrengungen in der Schule bekam ein feuerroter Wärmer von der ganzen Klasse den ersten Preis. Aber häkeltechnisch sei da der graue der beste, meinte die Lehrerin. Jedoch niemand sah hin. Ich auch nicht. Mir war mein Un-Kitsch peinlich.

Später dann, als mich die fixe Idee heimsuchte, ein seriöser Mensch zu werden, redete ich mir ein, meine neuerliche Vorliebe für dezente Pastellfarben würde mich schon davor bewahren, mich mit Kitsch einzulassen. Andrerseits jedoch fanden sich immer mal wieder in meiner nächsten Umgebung Dinge ein, die man nur als »puren Kitsch« bezeichnen konnte - und die liebte ich besonders innig. Dazu kam, daß ich auf diesem ganzen kitschigen Feld nicht einen Punkt fand, bei dem sich mal alle Welt einig war; den röhrenden Hirschen nicht ausgenommen. Und noch heute weiß ich nicht ganz genau, weshalb ein röhrender Hirsch Kitsch sein soll. Ich habe zwar auch keinen an der Wand hängen, aber nur deshalb nicht, weil ich ihn undelikat und häßlich finde. Ich mag ja auch keine gröhlenden Menschen. Und selbst Hunde sind mir lieber, wenn sie nicht bellen.

Daß sich meine innere kitschige Auseinandersetzung über Jahrzehnte hinzog, liegt sicherlich auch daran, daß ich so komische Menschen kenne. Zum Beispiel meine jüngste Tochter. Sie gehört den Fans der Gruppe an, die es in Mode brachte, in Jeans ins Theater zu gehen. Schon ein zartes Spitzenkrägelchen an einer harmlosen Bluse war für sie unmöglich, eben weil kitschig. So war das jahrelang, und ich hatte mich daran gewöhnt. Und nun? Jeans zieht sie zwar immer noch an, was sein muß, muß sein. Nicht nur die Hosen, sondern auch die dazugehörigen Oberteile. Aber letztens war bei ihr die obere Vorderseite dieser Verkleidung mit silbernen und goldenen Fäden bestickt, mit großen Samt- und Seidenapplikationen und Straß verziert und mit unechten Edelsteinen aller Schattierungen bis zur Größe von halben Walnüssen ausgestattet. Über und über. Welch ein Kitsch, aber ich fand es hinreißend. Ach ja, dieses zauberhafte Jeansgeschmeide brachte mich dazu, mich doch mal genauer über das Thema Kitsch zu informieren. Ich ging also auf die Jagd nach einem seriösen Buch. Die Fahndung zog sich hin. Sie war schwierig.

Was ich mir dann schließlich eingehandelt hatte, war eine Art wissenschaftlicher Anthologie. Jemand hatte eine Reihe von Geistesgrößen dazu gebracht, ihre Meinung über Kitsch kundzutun. Das hatte eines jener bedeutenden Bücherergeben, die oft unter Umgehung der Leser direkt in die Archive wandern. In diesem Fall kamen Philosophen zu Wort, Seelsorger, Psychiater, Historiker, Irrenärzte, Architekten - von allem das Feinste. Diese Leute hatten sich des Stoffes mit einem solchen Bierernst angenommen, als sei Kitsch ein KZ oder doch wenigstens eines der ganz großen Rätsel unseres Daseins. Zum Teil hatten sie so hoch abgehoben, daß man nur noch die verschwommenen Konturen ihrer Gedanken in den Wolken wahrnehmen konnte.

Einige Quintessenzen blieben dann aber doch als Bodensatz in meinem Gehirn zurück. Für einen der Weisen war alles Unperfekte Kitsch samt Kindern und alten Leuten. Ein anderer hatte das genaue Gegenteil herausgefunden. Für einen dritten war alles Nachgeahmte Kitsch, selbst rote Sonnenuntergänge in natura. Der Himmel äffe da den Krieg nach, bewies er bündig.

Kitsch sei eine Weltanschauung, wurde ich gewahr. Daß er auch eine Modesache ist, darauf war niemand gekommen. Welcher Mensch von mittlerer Reife hätte sich vor etwa fünfzehn Jahren künstliche Blumen ins Zimmer gestellt? Das war unmöglich. Der Jugendstil wurde seinerzeit abgeblasen, weil er grauslicher Kitsch war. Und was tut er heute? Er steht hoch im Kurs.

Ein langes Kapitel las ich gleich zweimal. Da wurde kategorisch erklärt, daß nur jene Gegenstände, die aus der jeweiligen Gegenwart stammen, kein Kitsch seien. Alles, was man an »Gerumpel« von früher mitschleppte, ob Möbel oder Kunstgegenstände (so edel deren Material auch sei und so vollendet die (Form), sei das Letzte, also Kitsch. Da fielen mir die teuren, ererbten Möbel einiger meiner Freunde ein -und die meinen auch.

Alles Hübsche sei Kitsch, kam auch vor. Der Einfall ist nicht neu; der Autor zeichnete sich bloß aus durch eine umständliche und zugleich undurchschaubare Beweisführung. Wenn ich früher mal etwas Hübsches kitschig gefunden hatte - nach dieser Lektüre wußte ich nicht mehr, warum ich das tat. Und traurig betrachtete ich meinen hübschen Feldblumenstrauß auf dem Tisch. Kitsch hin und her, ich würde ihm jetzt frisches Wasser geben.

Daß jedes Zeitalter, jedes Volk und jede Landschaft - etwa Tirol, Phönizien, Ungarn, China, die Schweiz - eine eigene, besondere Art von Kitsch hervorgebracht hat, sah ich ein. Aber weshalb war von der Hocheifel nicht die Rede? Sonderbar!

Überhaupt suchte ich vergeblich nach einem brauchbaren und verbindlichen Kitschleitfaden, aber es kamen weder Klo-Rollen mit putzigen Kleidchen, Vasen mit aufgemalten Blumen, noch Gartenzwerge vor. Und dann traf ich doch noch auf eine handfeste, standhafte Aussage (rote Sonnenuntergänge verschwinden ja wieder, sie sind also nur vorübergehender Kitsch und zählen nicht recht mit). Hier war etwas beim Namen genannt, was dauerhafte Gültigkeit hat: Bierseidel mit dem Kopf von Franz Josef Strauß drauf sind Kitsch!

Mehr weiß ich also immer noch nicht über dieses Phänomen. Ich werde mich auch weiter an den Feldherrn Timoleon halten, der vor zweiein-halbtausend Jahren sagte: »Mir fehlt hier das eine häßliche Stück, das meine Wohnung gemütlich macht.« Statt häßlich hätte er sicherlich kitschig gesagt, wenn es das Wort damals schon gegeben hätte. Unser Zeitgenosse, der Maler Friedensreich Hundertwasser, hat's da besser. Er behauptet kurz und bündig: »Die Abwesenheit von Kitsch macht unser Leben unerträglich!«