Unterwegs nach Deutschland

Claudia Voita, Neuhaus

 

Zu diesem Beitrag von Claudia Voita aus Thüringen, Mitarbeiterin für Öffentlichkeitsarbeit im Landratsamt Neuhaus am Rennweg, ist ein Wort vorab gewiß erlaubt. Die Autorin beschreibt, wie sie die Wende erlebte, wie sie heute mit kritischem Blick die Wiedervereinigung sieht. Am 9. November 1989 fiel die Mauer, seit dem 3. Oktober 1990 sind wir Deutsche aus Ost und West wieder ein Volk. Diese überaus dramatischen Ereignisse brachten für uns im Westen des Landes keine umwälzenden Veränderungen mit sich. Für Menschen, die vierzig Jahre hinter fest verschlossenen Grenzen unter einem diktatorischen Regime leben mußten, war die Wiedervereinigung auch enormes Umdenken in allen Lebensbereichen. Da wurden anerzogene Werte auf einmal in Frage gestellt, der Alltag bekommt ein völlig anderes Gesicht. Wie wird man damit fertig?

Unterwegs nach Deutschland stellt Fragen in den Raum - die Antwort sollten wir uns nicht so leicht machen.

Seit dem »heißen Herbst« des Jahres 1989 sind fast zwei Jahre vergangen. Ich überlege manchmal, wo sie geblieben sind, versuche zu rekonstruieren, was sich in welchem Monat ereignet hat, was ich selbst in dieser Zeit gemacht habe. Es fällt mir schwer. Die Zeit, scheint es, ist gerast; ein unglaubliches Tempo hat sich in unserem Leben und im Ablauf gesellschaftlicher Prozesse entwickelt, das mir mitunter Angst macht.

» Die Wende« - wann war das? Oder sind wir gar noch mittendrin? Das scheint richtig: Wir sind alle noch unterwegs, jede überwundene Hürde zeigt uns unzählige neue. Kraft muß man haben, Ausdauer, den Willen, sich im Strudel der Ereignisse zu behaupten und den Mut, sich zu seiner Vergangenheit als Individuum und als Teil eines Ganzen, das irgendwann mal sozialistische Menschengemeinschaft hieß, zu bekennen. Das ist wohl der schwierigste Part. Ich erinnere mich gut an den Sommer 1989. Wochenlang verfolgten mich die Fernsehbilder aus den Botschaftsgärten in Ungarn und der CSFR, in denen Tausende DDR-Bürger auf ihre Ausreise in den Westen warteten. Polizisten, die die an den Zäunen Emporgekletterten zurückzuzerren versuchten, junge Familien, mit nichts sonst als einer Baby-Tragetasche und einem vollgepackten Camping-Beutel. Ich hatte einen Kloß im Hals und pausenlos die Frage im Kopf: Warum tun wir nichts? Warum stellt sich die Regierung meines Landes blind und taub, wenn seine Bürger in Scharen das Weite suchen? Warum wird nicht öffentlich nach den Ursachen gefragt? Fassungslosigkeit und Wut bei allen, mit denen ich sprach - auch und zuerst bei den Mitgliedern der staatstragenden Partei SED, zu denen ich auch gehörte.

Im Oktober dann die ersten Fernsehbilder auch im DDR-Fernsehen von den Demonstrationen in Leipzig. Die blanke Angst macht sich breit. Was, wenn eine »chinesische Lösung« auch für Leipzig verordnet wird? Mit Entsetzen wird mir klar, daß sich die alten Herren an der Spitze des Staates DDR noch nie um die wahren Probleme des Volkes geschert haben und nun mit Recht um ihre Pfründe bangen müssen. »Wir sind das Volk!« schallt es wochenlang von einer Demo zur anderen, modifiziert sich in »Wir sind ein Volk!«, als am 9. November die Mauer fällt.

Wir sind das Volk! - Gehöre ich nicht auch dazu? Viele Tage und Wochen weiß ich nicht, was ich denken soll, was richtig ist. Ich bin doch hier geboren, in dem Land mit den drei Buchstaben DDR. Hier bin ich aufgewachsen und zur Schule gegangen, habe studiert, geheiratet, Kinder bekommen; ich habe gearbeitet, zwar nicht die Welt verdient aber dennoch sicher und gut gelebt. Überzeugt vom Ideal des Sozialismus, aber nicht von der Art und Weise, wie er bei uns praktiziert wurde, habe ich meinen gesunden Menschenverstand noch allemal über die Parteipropaganda gestellt und doch nichts bewirken oder verändern können. Ich habe zu leise und mit den Jahren wohl auch immer seltener interveniert, wenn die Schere zwischen dem verordneten Idealbild der Partei und dem wirklichen Leben immer weiter auseinanderklaffte; Ich habe getrotzt, kritisiert und mich manchmal auch verweigert - es hat nichts genutzt. Es war zu wenig.

Wir sind das Volk! - Waren die anderen besser als ich? Waren sie mutiger, ehrlicher, konsequenter? Einige vielleicht, sie haben sich einsperren lassen für ihre unbeugsame Haltung, für die Überzeugung. Diese wenigen - und nur sie - haben meinen Respekt.

Im Herbst '89 trete ich aus der SED aus; zu groß die Enttäuschung und der Frust über mißbrauchtes Vertrauen, die Hoffnung auf einen ehrlichen Neubeginn gleich Null. Mit mir nicht mehr. An meinen Idealen ändert das nichts. Nur ist mir klar geworden, daß Ideale unerreichbare Wunschvorstellungen sind und der Sozialismus, wie Marx ihn träumte, so nicht funktionieren kann. Das größte Hindernis dabei ist der Mensch selbst.

Ich muß einen neuen Weg für mich suchen, und es fällt mir schwer, mich in den ersten Monaten des Jahres 1990 zurechtzufinden. Aus nächster Nähe sehe ich Leute, die auf den Wogen der Wende nach oben gespült wurden und die Gunst der Stunde für die eigene Karriere nutzen. Im sprichwörtlichen Schweinsgalopp rasen sie von einer Partei in die nächste, bleiben in der vierten hängen und haben von Stund an ihre Vergangenheit vergessen. Fehlte bloß noch, sie zögen eine Geburtsurkunde aus der Tasche, die ihnen bescheinigt, erst am 9. November 1989 das Licht der Welt erblickt zu haben. Aber zum Glück gibt es auch andere, Menschen, die gewillt sind, so rasch und so gut es eben geht das Neue, von dem keiner so recht weiß wie es aussehen soll, aufzubauen und dabei auch de-nen eine Chance zu geben, die die Politik der SED zwar mit getragen, aber keine Schuld auf sich geladen haben. Das erweist sich oft genug als Gratwanderung, bei der wiederum Charakter und Stehvermögen gefragt sind. Es gibt Anfeindungen, öffentlich und anonym; Briefe, die vor Haß triefen aber keine Unterschrift tragen. Manchem, scheint es, fehlte jetzt nur noch ein geladener Revolver...

Zu den Kommunalwahlen im Mai '91 steht fest: Das Land Thüringen und auch der Kreis Neuhaus werden von der CDU regiert. Dem Volkswillen wurde zum ersten Mal in einer demokratischen Wahl auf kommunaler Ebene Rechnung getragen.

Für mich ein völlig neues Gefühl, keiner da, der sagt, du muß wählen gehen, du mußt hier oder dort dein Kreuz machen, du mußt bis spätestens acht Uhr im Wahllokal gewesen sein ... wunderbar. An einer Wahlbeteiligung von «nur« 80 Prozent stört sich kein Mensch, das Ergebnis bleibt tatsächlich bis zum Schluß ein Geheimnis und macht die Sache spannend. Eine nachhaltige Lektion in Sachen Demokratie.

In den ersten 6 Monaten des Jahres '90 hat sich auch die politische Zukunft des Länd leins DDR entschieden: Wir sind ein Volk heißt auch, wir sind Deutsche in einem zukünftig geeinten Deutschland. Einen reformierten Sozialismus im Land DDR wird es mithin nicht geben. Das Volk hat genug von derlei Experimenten, es winken die harte Mark und die große Freiheit, die ohne viel harte Mark schon gar nicht mehr so groß ist.

Am 1. Juli 1990 halte ich «Westgeld« in der Hand - kein geschenktes oder mal heimlich zugestecktes, nein, es ist mein Geld. Umgetauscht im Verhältnis 2:1 (bis auf einen Sockelbetrag) hat meine Barschaft plötzlich ein anderes Gesicht und einen völlig anderen Wert. Ich trage es in der Tasche wie etwas, das ich eigentlich gar nicht haben dürfte. Eine Art schlechtes Gewissen befällt mich jedesmal, wenn ich etwas damit bezahle - es ist irgendwie doch noch nicht mein Geld ... Als am 3. Oktober 1990 der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland erklärt wird, male ich ein schwarzes Kreuz auf meinen Schreibtischkalender. Ich muß mich von 36 in der DDR gelebten Jahren verabschieden und tue es mit gemischten Gefühlen. Vergessen will und kann ich nichts. Längst habe ich - und mit mir Millionen anderer »Ossis« - gemerkt, daß es viel Gutes gab im Staate DDR, auf das wir künftig verzichten müssen. Und nicht alles, was im Westen glänzt, ist auch tatsächlich Gold. In den folgenden Monaten nach der Vereinigung gibt es hundert- - ja tausendfach diese Neunmalklugen von jenseits der Grenze, die uns aus dem Osten den Schneid abkaufen und unser Selbstbewußtsein, unseren Stolz, am Boden zerstört sehen möchten. Vierzig Jahre faul und dumm - und jetzt auch noch Ansprüche stellen! Arbeiten sollen wir lernen und uns in Bescheidenheit üben .. .für Tausende Arbeitslose klingt das wie ein Hohn. I

ch habe noch Arbeit und hätte nie gedacht, daß ich ob dieser Tatsache einmal so etwas wie Dankbarkeit empfinden könnte. Das Arbeitsamt wird zum Ort der Begegnung, Begriffe wie Sozialhilfe und Wohngeld halten in unseren Wortschatz Einzug und werden unglaublich schnell gelernt. Das hatten wir vorher nicht -und ich kann mich auch nicht erinnern, bei den vielen Demonstrationen auch nur einen danach schreien gehört zu haben.

Ich muß lernen, mit folgender Tatsache umzugehen: Keiner, niemand ist für mich verantwortlich! Geht meine Lebensplanung daneben, kann ich keinen dafür haftbar machen. Ich kann tun was ich will - oder ich kann es lassen. Ich kann sagen, was ich denke - oder auch nicht. Ich kann jedes Jahr ein neues Unternehmen gründen - oder auch mit gleicher Regelmäßigkeit vor dem Nichts stehen. Es ist mein Leben, nur ich bestimme, was daraus wird. Das hat etwas so Endgültiges, Unumstößliches, daß mir vor dem Gedanken schaudert. So zu denken habe ich in 36 Jahren nicht gelernt.

Einen Wunsch habe ich für uns Deutsche, und ob er sich erfüllt, hängt von jedem gleichermaßen ab: Wir sollten lernen, mit den neu errungenen Freiheiten verantwortungsbewußt umzugehen und dabei die Schwachen an unserer Seite nicht vergessen.