Gelebtes Leben

Lotte Schabacker, Daun

 

Meine liebe Martha, ich will jetzt brieflich da fortfahren, wo wir neulich bei unserem Gespräch unterbrochen wurden. Als ich noch ein Kind war, erzählte mir mein Großvater in der Dämmerstunde zwischen Tag und Nacht oft Geschichten aus seiner Jugend. Wie er als kleiner Junge mit seinem großen Hund Schafe hütete und dabei mit Erfolg Strikken übte. Wie der elterliche Hof bis auf die Grundmauern abbrannte und er selbst nur einen Schuh retten konnte. Wie dann - welcher Bauer war um 1860 herum schon versichert -die Buben der Familie für einen fremden Dienstherrn Bäume fällen mußten, für 50 Pfennige pro Tag. Daß gleich hinterher, verursacht durch einen Blitzschlag, auch noch der Wald abbrannte.

Später, auf eigenem Hof, mußte der Großvater vor seinem eigenen wild gewordenen Bullen davonrennen. Und der Biß einer Kreuzotter hätte ihn fast das Leben gekostet. Eines Tages ging sein Pferdegespann mit ihm und seinem Wagen durch, erschreckt durch eine Feuerkugel (vermutlich einem Kugelblitz), die ihm über den Weg rollte. Und überhaupt seine Pferde, seine Hunde! Ach ja, Großvaters Feuer- und Tiergeschichten waren für mich aufregende Märchen.

Auch die Mutter erzählte. Beim Bügeln oder beim Strümpfestopfen. Von ihrer Mutter sprach sie oft, die so schön war und so früh sterben mußte. An den Folgen einer Operation, die für Ärzte heute ein Kinderspiel ist. Und ihr, der 18jährigen und dem einzigen Kind ihrer Eltern fiel die Arbeit, die Rolle und Verantwortung der Hofherrin zu.

Auch von anderen Verwandten berichtete sie, von Onkeln, Tanten, Groß- und Schwiegereltern, von Vettern und Cousinen. Von denen, die ausgewandert waren nach Übersee. Von ihren Schicksalen und Krankheiten, aber ebenso von ihrem Gottvertrauen und ihren Erfolgen. Vom gesegneten, langen Leben und vom allzu frühen Tod.

Aber hier hörte ich nicht richtig zu. Das ging zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus. Ich war halt ein Kind. Und welches Kind kommt schon darauf, daß es die Mutter, die das alles weiß, eines Tages nicht mehr geben wird? Diese Menschen im damaligen Hinterpommern, von denen ich nur die wenigsten kurz gesehen hatte, als ich noch sehr jung war, waren mir fremd. Zwei Großmütter und ein Großvater waren schon vor meiner Geburt gestorben. Der einzige Bruder meines Vaters war aus dem Ersten Weltkrieg nicht zurückgekehrt. Der Vater meiner Mutter hatte seinen Hof verkauft, als die Tochter heiratete und war mit ihr in die große Stadt am Rhein gezogen; er lebte also bei uns, den mußten wir nicht besuchen. Die Zeiten waren im und nach dem Ersten Weltkrieg auch nicht so, daß man einfach mal mit dem Wagen quer durch Deutschland fuhr, um seiner Sippe guten Tag zu sagen. Wer hatte da schon ein Auto? Man schrieb Briefe, schickte Fotos von Kindern, Brautpaaren und Gräbern.

Meine Welt, das war das Land am Niederrhein, die Stadt, in der ich geboren war, aufwuchs und zur Schule ging. Und was die Nachbarskinder gerade taten, war weit wichtiger für mich, als etwa eine neue Base dritten Grades in Schneidemühl. Großvater und Mutter würden ja auch weiter von ihr erzählen und von all den anderen. Aber es kam anders. Der Großvater starb, die Dämmerstunden fielen aus. Das Dritte Reich zog herauf, für die Eltern eine drohende Gewitterwolke. Sie gehörten einer christlichen Gemeinschaft an, die damals nicht gern gesehen war - und der Vater war Beamter. Ich selbst mußte zur weiteren Ausbildung in eine andere Stadt umsiedeln. Dann der eigene Beruf, Krieg, Heirat, Kinder. Auch die Bomben kamen und vernichteten unser junges Heim und alle Habe. Ich wurde mit den Kindern evakuiert, wie man das nannte. Länger wußte ich nicht, wo mein Mann lebte.

Nach Kriegsende waren die östlichen Verwandten noch viel weiter weg als früher. Und die Gräber auch.

Wenn wir uns nun mit den Eltern trafen, ging es um eigene Probleme. Um die berufliche Umstellung von Mann und Vater. Um die angeschlagene Gesundheit der Mutter. Um die Kinder und Enkel. Um eine neue Wohnung und deren Ausstattung; nichts ist so schnell aufgebaut wie zerstört. Mit der Zeit sprach die Mutter dann doch immer mal wieder von ihren Leuten im Osten. Der und der hatte den Krieg nicht überlebt, die und die waren geflohen oder vertrieben, sie wohnten nun hier und da, hauptsächlich jenseits der »Mauer«, die damals noch stand. Auch sie waren mit ihren eigenen Angelegenheiten befaßt. Die Briefe wurden kürzer, sachlicher, sie waren nun oft geschrieben von den Kindern oder gar Enkeln der ehemaligen, altgewordenen Briefpartner. Meist nach Diktat. Von jungem Volk, das auch die Mutter nur dem Namen nach kannte.

Ob nicht ich mal antworten wollte, fragte die Mutter. Diese Briefschreiber, das sei ja nun meine Generation und schon die darunter. Ich versprach es lustlos und halbherzig, schob es erst mal auf. Und schließlich wurde nicht viel daraus. Es war mir nun auch zu peinlich, immer wieder nachzufragen: Wer ist genau derund der und die und die? Ich verließ mich weiter auf die Mutter.

Die Zeit verging. Vater wurde krank, Mutter pflegte ihn jahrelang und hatte alle Hände voll zu tun. Als sie kurz nach seinem Tod einen Gehirnschlag bekam, erst da wurde mir mit Schrecken klar, was alles mit ihrem ausgelöschten Gedächtnis verlorengegangen war. Nicht nur, daß die Verwandten nun in noch weitere Ferne gerückt waren. Auch von ihr selbst

- so war mir - wußte ich zu wenig, viel zu wenig. Von Vorkommnissen, die in keinem anderen Gehirn mehr aufbewahrt waren, von Besonderem im Zusammenleben mit meinem geliebten Vater, von Gedanken, Hoffnungen, die sie gehegt und von Ängsten, die sie gemeistert hatte

- oder auch nicht. Hatte sie ihren Weg ohne alle Glaubenszweifel gehen können? Und ihre Enttäuschungen: Sie hatte nicht darüber gesprochen. Aber die mußte es doch geben. Die gibt es immer.

Wir hatten die meiste Zeit unseres Lebens an verschiedenen Orten gelebt, und wenn wir uns besuchten oder telefonierten, war die Rede von den Dingen des Tages, von dem, was gerade anlag, von Vordergründigem. Aber Mutter hatte