Anlaufschwierigkeiten

Stefan Kamp, Daun

 

Als der Dauner Kreistag am 19. Juni 1990 beschloß, dem Zeitgeist entsprechend eine Partnerschaft mit dem Landkreis Neuhaus am Rennweg einzugehen, konnte noch niemand wissen, daß Eifel und Thüringer Wald binnen dreieinhalb Monaten zu einem Staat gehören würden, getrennt nur noch von Staus auf den Straßen, nicht aber mehr von Weltanschauung und Stacheldraht. Niemand wußte um Walter Mompers nach durchfeierter Nacht am 10. November 1989 vor dem Bundesrat gesprochenen Satz, das deutsche Volk sei »das glücklichste der Welt«, aber ebensowenig wußten die Menschen um die Probleme, die in den kommenden Monaten und Jahren auf sie zukommen sollten. Rund 36 500 Menschen leben im Kreis Neuhaus, etwa 60 Prozent der Dauner Kreisbevölkerung, dabei ist Daun schon der kleinste Kreis im Lande Rheinland-Pfalz. Flächenmäßig paßt der Kreis Neuhaus mit seinen 32 076 Hektar gut dreimal in den Kreis Daun; 22 595,77 Hektar davon sind Wald. Wenn man jedoch die einer Lösung harrenden Probleme in Daun und Neuhaus vergleicht, dann hat der kleinere der beiden kleinen Kreise ungleich »mehr zu bieten«.

Von den 36 654 Menschen, die Ende Januar im Landkreis Neuhaus lebten, waren 2 271 als arbeitslos gemeldet. Der Kreis besteht aus rund 12000 Haushalten. Hinzu kamen 6433 Kurzarbeiter; wieviele hiervon auf Null-Stunden-Kurzarbeit gesetzt, also faktisch auch arbeitslos waren, wurde nicht gesondert registriert. Die Zahl der vorhandenen Arbeitsplätze im Kreisgebiet wird von der dortigen Verwaltung als »verschwindend gering« bezeichnet. Die einseitig ausgerichtete wirtschaftliche Struktur der Region läßt derzeit auch nicht viel Hoffnung aufkommen.

Blick auf das Glasbläserstädtchen Lauscha

Die meisten der 39 Industriebetriebe im Landkreis sind dem glasverarbeitenden Gewerbe zuzuordnen; vor allem Christbaumschmuck, Glaskunst und Porzellanfiguren werden in zahlreichen Betrieben hergestellt, vielfach in Handarbeit. In zahlreichen Werkstätten führen die Glasbläser und Porzellanmaler dem Besucher ihr Handwerk vor, und in Lauscha, der zweitgrößten Stadt des Kreises, ist eigens ein Glasbläsermuseum eingerichtet. Derzeit gibt es nur in der Kreisstadt Neuhaus ein zehn Hektar großes Industriegelände; weitere neun Industriegebiete mit einer Gesamtfläche von über 35 Hektar sollen in der Hoffnung auf Investoren noch ausgewiesen werden.

Das zweite Standbein der dortigen Wirtschaft ist der Fremdenverkehr. In der Mitte Deutschlands gelegen und etwa 45 Kilometer entfernt vom bayerischen Coburg, 80 Kilometer von Weimar und 130 Kilometer von Eisenach, hofft Neuhaus darauf, daß das Thüringische Schiefergebirge wieder an vergangene Zeiten als beliebtes Naherholungs- und Urlaubsgebiet für Wanderer und Naturfreunde anknüpfen kann. Zu Zeiten der SED-Herrschaft, als nach Auskunft der dortigen Kreisverwaltung jährlich rund 120000 Menschen ihren Urlaub im Kreis Neuhaus verbrachten, gab es damit keine Probleme. Nun sind diese Zeiten, als der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB) viele Zimmer auf Jahre im voraus mietete und bezahlte, auch wenn sie nicht benutzt wurden, vorbei. Mußten die Verantwortlichen damals nach eigenen Angaben »nicht um den Gast werben«, so hat sich dies heute gründlich geändert. Das Fremdenverkehrsamt in Neuhaus, das als Geschäftsstelle des »Gebietsausschusses Thüringer Schiefergebirge« für die gesamte Region wirbt, ist emsig um Gäste bemüht. Gesucht wird der naturliebende Wandersmann, der sich nicht über Schlaglöcher in den Straßen aufregt und willens und in der Lage ist, seine (westlich-verwöhnten) Ansprüche hinsichtlich der Unterbringung zurückzuschrauben.

Für Wanderer besonders interessant sein dürfte der Rennsteig, ein 167,9 Kilometer langer Höhenwanderweg über den Kamm des Thüringer Waldes und des Thüringer Schiefergebirges bis in den nördlichen Frankenwald, der auch durch den Kreis Neuhaus verläuft. Neben zahlreichen intakten und beschilderten Wanderwegen und acht Naturschutzgebieten auf 1 702 Hektar haben die Tourismusexperten aber noch mehr »Karten im Ärmel«. Zahlreiche Unterhaltungsangebote, etwa das Schiefermuseum in Steinach oder das Spielzeugmuseum im benachbarten Sonneberg, die steilste Seilzugbahn Europas mit normaler Eisenbahnspurweite, sechs Freibäder und ein Hallenbad, neun Skilifte und vieles mehr.

Das Zimmerangebot ist derzeit noch etwas problematisch, räumen die Mitarbeiter des Fremdenverkehrsamtes freimütig ein. Vor allem der Komfort lasse vielfach zu wünschen übrig. Zwischenzeitlich gibt es aber im Kreis Neuhaus eine ganze Reihe von gutausgebauten Zimmern mit eigenem Bad, die den Ansprüchen westdeutscher Touristen durchaus entsprechen. Die Preise für Unterkunft und Verpflegung sind zur Zeit noch günstig, Privatzimmer sind zumeist für unter 20 Mark pro Person und Nacht zu mieten. Allerdings empfiehlt es sich, vorher beim Fremdenverkehrsamt nachzufragen, wie die Zimmer ausgestattet sind. Natürlich kann sich jeder auch auf eigene Faust auf Zimmersuche begeben. Dies hat zudem den unschätzbaren Vorteil, in wirklichen Kontakt mit den Menschen »drüben« zu kommen, wie dies in einer standardisierten Pension oder gar einem größeren Hotel nicht möglich wäre. Doch nicht nur die wirtschaftliche Lage bereitet Probleme, auch die öffentliche Verwaltung ist ein Sorgenkind. Eines der größten Probleme ist die immens aufgeblähte und uneffiziente Behördenstruktur in den neuen Ländern, auch in Neuhaus. Über 200 Menschen stehen auf der Gehaltsliste der dortigen Kreisverwaltung; das heißt aber nicht, daß sie dort auch wirklich arbeiten. Nun ist die von bösen Zungen stammende Mär vom deutschen Beamten, der frühmorgens ins Büro geht, um sich für den Feierabend auszuruhen, auch (west-)deutschen Behördenbesuchern nicht gänzlich fremd, doch in Neuhaus scheint es Mitarbeiter zu geben, die geradezu fürs Nichtstun angestellt zu sein scheinen. So sitzen beispielsweise zwei Leute täglich am Eingang des Neuhauser Verwaltungsgebäudes, nicken jedem, der hinein- oder herausgeht, freundlich zu, haben ansonsten aber nichts zu tun. Jedoch ist dieser Vorwurf nicht dem einzelnen Mitarbeiter zu machen. Da es zu SED-Zeiten keine Arbeitslosigkeit geben durfte, wurde jeder auf eine Planstelle gesetzt, selbst wenn es keine Arbeit für ihn gab. Und auch heute scheint es vielfach noch an einer effizienten Behördenstruktur zu fehlen, die dem Mitarbeiter eine konkrete und vor allem sinnvolle Beschäftigung böte.

Rathaus in Gräfenthal

Vereinzelt sagen auch führende Mitarbeiter der Neuhauser Kreisverwaltung hinter vorgehaltener Hand, daß eigentlich mindestens jeder vierte Mitarbeiter gehen müßte. Vor allem aus alten SED-Zeiten gebe es noch zahlreiche Kollegen, die in ihrem Büro säßen und in gewohnter Weise auf Anweisungen warteten. Wie der Kreis, der ohne Finanzhilfe aus der thüringischen Landeskasse seit Februar zahlungsunfähig wäre, die Mitarbeiter langfristig bezahlen will, weiß niemand so recht, doch den schmerzlichen Schritt zu tun und einen Teil der Mitarbeiter zu entlassen, hat man bislang nicht gewagt, obwohl der deutsch-deutsche Einigungsvertrag hierfür die notwendigen Möglichkeiten geschaffen hatte.

Andererseits scheint für besonders wichtige Projekte immer noch Geld in Neuhaus vorhanden zu sein. So wurde Ende 1990 noch schnell ein Teil der Fenster im Landratsamt durch modernes Isolierglas ersetzt. Zwar gab es einen kurzen Aufschrei der Entrüstung in der Bevölkerung ob dieser »Fenster im Büropalast«, doch gelang es dem stellvertretenden Landrat Gazda schnell, die Vorwürfe aus der Welt zu schaffen. Das Gebäude sei immerhin schon 38 Jahre alt, und es sei dringend notwendig, etwas 'für die Wärmedämmung zu tun. Vor allem aber habe das Geld ohnehin ausgegeben werden müssen, denn sonst hätte es die Landesregierung zurückverlangt.

Die Aufbauhilfe westlicher Bundesländer scheint ebenfalls ihre Tücken zu haben. Mitarbeiter der Kreisverwaltung Neuhaus berichten etwa von Fällen, wo Formulare aus Hessen, die Durchführungsverordnung aus Bayern und die beratenden Beamten aus Rheinland-Pfalz kamen. Daß Verwirrung die Folge war, läßt sich leicht erahnen, ist doch schon der landeseinheitliche Formularkrieg teilweise kaum noch durchschaubar, geschweige denn eine Drei-Länder-Mischung.

Von politischer Seite wird die Verwaltungshilfe offiziell stets gelobt, doch scheinen weder die Berater noch die zu Beratenden mit dieser Kooperation wirklich ganz zufrieden. Während die einen im kleinen Kreis davon reden, daß westdeutsche Beamte als besserwisserische Heilsverkünder aufträten, die glaubten, den »dummen Ossis« jetzt endlich die Regeln der Zivilisation beibringen zu können, wird von der anderen Seite kritisiert, ihre gutgemeinten und konstruktiven Ratschläge fielen stets auf steinigen Boden. Ungeachtet dieser gegenseitigen Kritik wird die Verwaltungshilfe jedoch als überwiegend hilfreich angesehen. Und dies ist gut so, denn es gibt wahrlich genug Aufgaben, für die eine funktionierende Verwaltung gebraucht wird.

Nur ein Sechstel der Haushalte ist an eine mechanische Kläranlage angeschlossen, deren biologischer Teil 1991 in Betrieb gehen soll. Zwar sind zahlreiche Familien an die Kanalisation angeschlossen, doch gehen deren Abwässer ungeklärt in den nächsten Bach; überdies ist ein großer Teil der verlegten Rohre erneuerungsbedürftig. Für eine Reihe von Haushalten stehen ohnehin allenfalls hauseigene Klärgruben und Sickerschächte zur Verfügung. In 99 Prozent der Haushalte wird noch mit Braunkohle geheizt, doch sollen bis Ende 1992 80 Prozent an die Erdgasversorgung angeschlossen sein; gegenwärtig werden die Menschen nur mit Stadtgas versorgt, welches jedoch nur in Ausnahmefällen zum Heizen genutzt wird. Entsprechend belastet ist verständlicherweise auch die Luft. Genaue Werte will die Kreisverwaltung zwar nicht nennen, betont aber, daß der zu zwei Drittel aus Wald bestehende Kreis Neuhaus »nicht im Bereich der smoggefährdeten Zonen des Landes Thüringen« liegt; die gemessenen Werte hätten stets unter den Grenzwerten gelegen. Auch die Müllabfuhr könnte die Aufmerksamkeit einer funktionierenden Kreisverwaltung beanspruchen. Seit dem Fall der Grenzen hat sich das Müllaufkommen in Neuhaus auf jährlich 60 000 Kubikmeter Hausmüll verdreifacht, die derzeit genutzten Deponien sind nach Auskunft der Kreisverwaltung spätestens in acht Jahren voll. Zudem könnte es sich als verdienstvoll erweisen, die gesamte Verwaltungsstruktur im Landkreis zu verändern, wobei dies sinnvollerweise im Bundesland Thüringen einheitlich geschehen müßte. Verbandsgemeinden vergleichbar rheinland-pfälzischem Muster sind dort unbekannt, die 27 Gemeinden verwalten sich selbst. So kommt es, daß 24 dieser Gemeinden einen eigenen hauptamtlichen Bürgermeister und eigene hauptamtliche Verwaltungsmitarbeiter haben, unabhängig davon, ob die Gemeinde nun aus 300 oder 6 000 Einwohnern besteht. Doch ist fraglich, ob sich eine derartige Reform im Kreis Neuhaus noch lohnen würde. Erst 1953 wurde der Kreis aus Teilen der umliegenden Landkreise zusammengezimmert, und erste Zerfallserscheinungen sind schon sichtbar. So haben sich die Bewohner der zweitgrößten Stadt des Kreises, Lauscha,in einer internen Umfrage dafür ausgesprochen, wieder zu ihrem alten Landkreis Sonneberg zurückzukehren, und selbst Verwaltungsmitarbeiter machen keinen Hehl aus ihrer Auffassung, daß Neuhaus als Landkreis keine lange Zukunft mehr beschieden sein wird. Daun stünde dann wieder ohne Partner.