Zeitbilder der Kreisgeschichte

Frauen aufs Podest

„De Ditzchesmöhn"

Theo Pauly, Gerolstein

 

Wenige Tage nach Vorstellung des Heimatjahrbuches 1992 erreichte mich die nette, in Mundart abgefaßte Klage einer Mitautorin, daß im Buch „nemme Mann op de Podester" stehen; sechzehn an der Zahl, und keine einzige Frau! Ich habe nachgezählt; es stimmt! Das Schreiben ist offensichtlich an die Mitautorinnen des Jahrbuches gerichtet mit der Aufforderung: „Dir Frauleck! Macht esch op Wasch un seekt no Fraue un feilt dat nähst Booch 1993 mot sechzehn Frauebiller, die sech jewäsch hahn!"

Ich werde gebeten, doch auch für das nächste Heimatjahrbuch in einem Beitrag eine Frau „zu zeichnen". Ein ehrenvolles Angebot! Ich überlege. Da fallen mir zunächst Frauengestalten aus der Geschichte ein. Starke Frauen, vor allem in der Profangeschichte, hehre Frauen in der Kirchengeschichte. Doch sie alle sind längst vielfältig und aus berufeneren Federn verherrlicht, gedemütigt, „aufs Podest" gehoben, verdammt. Solche Frauen sind auch sicherlich nicht gemeint, in einem Heimatjahrbuch erneut und laienhaft vermerkt zu werden. Es ist wohl an Frauengestalten gedacht, die in unserer Heimat, in unseren Landkreisen Besonderes dargestellt oder geleistet haben. Und da fängt die Sache an, schwierig zu werden. Die Eifler sind, von Ausnahmen abgesehen, nicht geneigt, sich unbedingt in der Öffentlichkeit zu produzieren; sie sind bescheiden, tun ihre Pflicht, oft sehr viel mehr, und machen kein Aufhebens davon. Eine starke Frau, eine gute, liebevolle, couragierte, warmherzige, tüchtige, altruistische, doch ab und an auch egoistische, arbeitsame, fleißige, fromme, gescheite (und was noch alles) Frau war meine Mutter. Doch wessen Mutter war und ist das nicht? Zudem möchte ich die Erinnerung an sie nicht mit der Öffentlichkeit teilen. Sie gehört mir, mir allein! Ich teile sie, diese Erinnerung, mit meinen Geschwistern und nächsten Angehörigen, doch mit sonst niemand! Darum kann und will ich sie nicht „aufs Podest" heben.

Wer käme sonst in Frage? Am ehesten machen Leute auf sich aufmerksam, die in der Politik tätig sind. Sie stehen zwangsläufig im Licht der Öffentlichkeit; von daher werden ihre Taten transparent und gewürdigt, oder auch nicht. Sollte man nun politische Frauen „aufs Podest" stellen? Etwas sträubt sich da in mir, Frauen aus der Politik, die ja manchmal auch nur „Quotenfrauen" sind, als etwas Besonderes anzusehen. Natürlich gehören Frauen in die Politik, genauso wie Männer. Aber das ist doch nichts Besonderes! Sind Frauen deshalb etwas Besonderes, weil sie Frauen sind? Sind es Männer? Ich finde es schon richtig, wenn Frauen, die das Zeug dazu haben, ihr Licht in der Öffentlichkeit nicht unter den Scheffel stellen; ich bin für Gleichberechtigung der Geschlechter. Nur finde ich es nicht angebracht, wenn sie ausnahmslos in allen Belangen angestrebt wird. Das, denke ich, ist auch gar nicht gewollt, selbst nicht von den sogenannten „Emanzen". Es ist schon recht, wenn Frauen sich dagegen wehren, nur als „Heimchen am Herd" angesehen und verschlissen zu werden. Denn sie sind es meist, die den Männern „aufs Podest" helfen. Die Mitautorin drückt es treffend aus: „Nett sähle steht mannijerene op der Scheller vännem Fraumensch, dat mot jewöhnlejem Eendohn da Mannskerl für die hiej Pöstjer freihäld". Was wären Männer ohne Frauen? Was wären Frauen ohne Männer? Darum finde ich das Anliegen, auch einmal Frauen „aufs Podest" zu stellen, gut.

Nur, Frauen wirken im Stillen, meist!

Ich denke, das ist ihnen gelegener, ist frauenspezifischer. Vielleicht haben wir Männer noch nicht den Dreh heraus, das zu erkennen und entsprechend zu honorieren.

Und da wäre sowieso zu fragen: Was hebt den einen oder anderen aus der Masse heraus? Wer vollbringt überhaupt etwas Besonderes? Aus welchen Gründen? Mit welchen Absichten? Ist das, was er Besonderes getan hat, wirklich etwas Besonderes? Hat es sich nicht aus der Situation heraus von selbst ergeben? Hat er etwas anderes getan, als seine Pflicht? Was überhaupt ist Pflicht? Was ist mehr als Pflicht?

Tausend Fragen tun sich auf. Ich denke, wenn jeder an seinem Platz nach bestem Wissen und Können so verfährt, wie es die Situation von ihm verlangt, dann tut er seine Pflicht; nicht mehr und nicht weniger. Wenn jemand darüber hinaus sich für andere, für seine Mitmenschen, einsetzt, dann ist er in meinen Augen jemand, der schon einmal „aufs Podest" gehoben werden darf. Nur wäre auch hier zu fragen, ob er das auch wirklich nur zu Nutz und Frommen der Mitmenschen tut, oder weil er es für sich selbst, für sein eigenes Image braucht? Im letzten Fall wäre es wieder nicht Besonderes. Es ist schwer, abzuwägen, was die Beweggründe sind, etwas Besonderes zu tun, etwas, das einen Menschen über andere hinaushebt und ich bin sicher, daß mancher, häufig auch posthum, „aufs Podest" gestellt wird, der Zeit seines Lebens nicht im Entferntesten daran dachte, jemals etwas Besonderes getan oder bewirkt zu haben. Und so denke ich an eine Frau, die still und ohne großes Getue ihren Weg ging, ihre Pflicht getan, vielen in der Not und manchem ins Leben geholfen hat.

Auch mir.

Die Rede ist von „Ditzchesmöhn".

Sie lebte in Sarmersbach, war Hebamme für die Struth und darüber hinaus. Die Erwachsenen nannten sie „Höffches Ann", die Frau von „Klären Hanni", dem Freund meines Vaters; „de Hewann", „de Ditzchesmöhn".

Ein „Ditzche" war für uns Kinder das, was heute „Baby" heißt. Das „Ditzche" wurde von der „Ditzchesmöhn" aus dem „Potz", dem Brunnen auf die Welt geholt. Eigenartig, daß die Mutter eines solchen „Ditzchens" stets eine Zeitlang krank war und das Bett hüten mußte. Weitere Fragen taten sich mir auf in diesem Zusammenhang:

Warum war es eine Frau, die das „Ditzchen" aus dem Brunnen holte und nicht ein Mann, der doch viel kräftiger gewesen wäre? Und warum war es immer die gleiche Frau, de „Ditzchesmöhn"? Was für Utensilien mochte sie in ihrem Köfferchen haben, in diesem stets gleichen mit dem abgewetzten Griff und den blessierten Ecken? Dieses Köfferchen barg ein Geheimnis, das nie ein Kind gelüftet hat. Auch die Besitzerin war für uns Kinder von etwas Besonderem umgeben, dabei war sie die Mutter Gleichaltriger, die sich in nichts von uns unterschieden. Auch der Haushalt dieser Frau war nicht anders als irgendeiner in der Struth. Nur wenn sie mit ihrem Köfferchen, an dem der Lack Flecken und abgeblätterte Stellen aufwies, unterwegs war, begegneten wir der „Ditzchesmöhn" mit sehr viel mehr Respekt, als wenn wir ihr im eigenen Haus über den Weg liefen.

Hatte sie nun, „de Ditzchesmöhn", ein „Ditzchen" aus dem „Potz" auf die Welt geholt, dann war das umgehend bekannt, und uns Kindern wurde die Zeit lang, bis wir nach einigen Tagen das „Ditzchen kucken" gehen durften. Unsere Mütter machten diesen Besuch schon am nächsten oder übernächsten Tag, wurden zum „Ditzcheskaffee" eingeladen. Wir mußten noch warten, dabei war unsere Neugier doch genau so groß. Oder waren es nicht viel mehr die „Ditzcheskamällen", die „de Ditzchesmöhn" jedem von uns, der zum „Ditzches-Gucken" kam, mit freundlichem, ja fast liebevollem Lächeln in die aufgehaltene Hand legte? Mich haben diese Süßigkeiten jedesmal viel mehr interessiert als das „Ditzchen", das da zusammengeschnürt und fest verpackt in der Wiege lag und von dem nur ein Paar meist geschlossener Augenschlitze zu sehen waren, das kleine Naschen und ein roter Mund, die mehr oder weniger dichten und lichten blonden, braunen oder schwarzen Härchen auf dem winzigen Köpfchen, mal länger, mal kürzer, mal ganz „oben ohne".

Das Krähen und Gequake des „Ditzchens" interessierte uns wenig, ebenso wenig die offenbarfür Angehörige existentielle Frage, wem das „Ditzchen" nun ähnlich sei. Die „Ditzcheskamällen" waren wichtig, ihre Anzahl, ihr Aussehen, ihre Größe und Geschmack; sonst nichts. So fielen unsere Besuche beim „Ditzches-Gucken" stets recht kurz aus.

„De Ditzchesmöhn" hatte eine Woche lang täglich die Wöchnerin und ihr Kind zu pflegen. Sie mußte bei Wind und Wetter, oft durch tiefen Schnee, in dem sie fast stecken blieb, den Weg zu ihren Pflegebedürftigen machen. Dann tat sie häufig in durchnäßten Kleidern im ungeheizten Schlafzimmer ihre Pflicht, da half auch nicht die Tasse Kaffee, die man ihr anbot; ein warmer Ofen wäre hilfreicher gewesen. Doch „de Ditzchesmöhn" beklagte sich nicht, erzählte allenfalls zu Hause einmal von ihren Strapazen. Als Meßdiener erlebte man sie dann wieder in Aktion, wenn das „Ditzche" getauft wurde. Sie war es, die das kleine Wesen in die Kirche trug; die Mutter war bei der Taufe des Kindes noch nicht dabei, denn sie war noch bettlägerig, da die Taufe spätestens drei Tage nach der Geburt stattfand. Auch der Vater oder sonst ein Angehöriger war selten bei der Taufe anwesend; das war Sache des Pastors, der Paten und eben der „Ditzchesmöhn". Die Meßdiener und das Nachbarkind mit der Taufkerze vervollständigten die Taufgesellschaft. „De Ditzchesmöhn" wickelte das Köpfchen auf, entblößte das kleine Haupt, damit das Taufwasser darüber rieseln konnte, hielt den Täufling über das Taufbecken; sie war die Hauptperson bei dieser Zeremonie. Pate und Patin durften die Hand auflegen, sonst nichts.

Und nach der Taufe lieferte sie das Baby treu wieder bei der Mutter ab, versorgte sie und ihr Kind, war anschließend beim Kaffeeschmaus wieder die Hauptperson. Und noch einmal trat „de Ditzchesmöhn" öffentlich in Aktion, wenn einige Wochen nach der Geburt die Mutter an einem Seitenaltar der Kirche „ausgesegnet" wurde. Dann kniete sie, die durch die Geburt „unrein" geworden war und daher keinen Gottesdienst besuchen durfte, am Seitenaltar - zum Hochaltar durfte sie noch nicht; „de Ditzchesmöhn" stand hinter ihr, wohl als Beistand und Zeugin, und der Geistliche sprach die Aussegnungsgebete. Damit war die Arbeit der „Ditzchesmöhn" in diesem besonderen Fall beendet. Das nächste „Ditzchen" wartete im „Potz", um von ihr auf die Welt geholt zu werden.